Allein die Möglichkeit, in Großbritannien schneller eine Restschuldbefreiung zu erreichen, genügt nicht, um die Voraussetzungen des Art. 26 EuInsVO zu bejahen.
Die rechtsmissbräuchliche Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland nur zum Schein (hier: nach Großbritannien) kann einen Verstoß gegen den deutschen ordre public darstellen und einer Anerkennung des ausländischen Insolvenzverfahrens entgegenstehen. Ferner kann sich der Antragsteller nicht auf die Restschuldbefreiung berufen, wenn er im Rahmen des Bankruptcy-Verfahrens teilweise falsche Angaben gemacht hat. [LS der Redaktion]
[Der vorgehende Beschluss des FG Mecklenburg-Vorpommern vom 28.8.2015 – 3 V 65/15 – wurde bereits im Band IPRspr. 2015 unter der Nr. 291 abgedruckt.]
Der ASt. ist seit 1991 als Steuerberater in B tätig. Er hat aus den Jahren 1991 bis 2000 Steuerschulden gegenüber dem AGg., dem FA B. Im Juli 2009 richtete das FA einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens an das Insolvenzgericht A, den dieses mit Beschluss vom 12.8.2009 als unzulässig zurückwies. Am 10.9.2009 stellte das FA einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des ASt. beim AG B. Dagegen erhob der ASt. Klage beim FG und beantragte den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Kurze Zeit bevor das FA den Insolvenzantrag zunächst in A und sodann in B gestellt hatte, wurde ihm bekannt, dass auf Antrag des ASt. bereits am 11.8.2008 vor dem High Court of Justice in London ein Insolvenzhauptverfahren (sog. Bankruptcy-Verfahren) nach Art. 3 EuInsVO eröffnet worden war, in dem dem ASt. die Restschuldbefreiung (discharge) erteilt worden war. Das FA war im Rahmen dieses Insolvenzhauptverfahrens nicht angehört worden. Am 8.7.2010 beantragte das FA beim High Court den Widerruf der Restschuldbefreiung. Nach dem Vortrag des FA im Verfahren vor dem FG kam es aus nicht mehr aufklärbaren Gründen nicht zu einer Durchführung dieses Verfahrens. Im September 2014 beantragte das FA beim High Court erneut die Aufhebung der Insolvenzeröffnung vom 11.8.2008 (bankruptcy order) mit der Begründung, der ASt. habe nie wirklich in England gelebt.
Mit Beschluss vom 28.8.2015 kam das FG zu dem Ergebnis, der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei zulässig und begründet. Hiergegen legte das FA Beschwerde ein.
[14] II. Die Beschwerde des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Ablehnung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ...
[17] 2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist schon unbegründet, weil der Senat nicht vom Vorliegen eines Anordnungsanspruchs gemäß § 114 I 2, III FGO i.V.m. § 920 I und II ZPO ausgeht ...
[19] a) Gemäß Art. 3 EuInsVO ist am 11.8.2008 vor dem High Court of Justice in London ein Insolvenzhauptverfahren (sog. Bankruptcy-Verfahren) gegen den ASt. eröffnet worden, bei dem es sich um ein Insolvenzverfahren im Sinne des Art. 2 lit. a i.V.m. Anh. A EuInsVO handelt. Die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens im Vereinigten Königreich ist gemäß Art. 16 I 1 EuInsVO grundsätzlich in Deutschland anzuerkennen (vgl. auch Art. 17 I EuInsVO). Dasselbe gilt gemäß Art. 25 I 1 EuInsVO für die dem ASt. am 11.8.2009 erteilte Restschuldbefreiung (discharge). Unabhängig davon, inwieweit die discharge from bankruptcy der Restschuldbefreiung im Sinne des § 286 InsO vergleichbar ist, führt sie gemäß s. 278 (b) Insolvency Act 1986 zur Beendigung des Bankruptcy-Verfahrens.
[20] Einer Anerkennung der Restschuldbefreiung im Sinne des englischen Rechts steht nicht schon entgegen, dass der ASt. seinen COMI möglicherweise nur kurzfristig nach Großbritannien verlegt hat. Denn Art. 16 I 1 EuInsVO ist dahin auszulegen, dass das von einem Gericht eines Mitgliedstaats eröffnete Insolvenzverfahren von den Gerichten der übrigen Mitgliedstaaten anzuerkennen ist, ohne dass diese die Zuständigkeit des Gerichts des Eröffnungsstaats überprüfen können (Urteile des EuGH: 2.5.2006 – Eurofood IFSC Ltd., Rs C-341/04, EU:C:2006:281 Rz 42; 21.1.2010 – MG Probud Gdynia sp. z.o.o., Rs C-444/07, EU:C:2010:24 Rz 29; 22.11.2012 – Bank Handlowy w Warszawie S.A. und PPHU ADAX/Ryszard Adamiak ./. Christianapol sp. z.o.o., Rs C-116/11, EU:C:2012:739 Rz 41; vgl. zu Art. 102 I Nr. 1 EGInsO: BGH, Beschl. vom 18.9.2001 – IX ZB 51/00 (IPRspr. 2001 Nr. 212), NJW 2002, 960; Urt. vom 10.9.2015 – IX ZR 304/13 (IPRspr 2015-292), ZIP 2015, 2331). Ggf. müssen Fragen hinsichtlich der Zuständigkeit im Rahmen von im Eröffnungsmitgliedstaat gegebenen Rechtsbehelfen gegen die Eröffnungsentscheidung geklärt werden (vgl. Eurofood aaO Rz 43).
[21] b) Nach summarischer Prüfung sprechen die Umstände des vorliegenden Falls überwiegend dafür, dass sich der ASt. auf die vom High Court of Justice erteilte Restschuldbefreiung in Deutschland nicht berufen kann, weil dies dem Ordre-public-Vorbehalt gemäß Art. 26 EuInsVO oder jedenfalls dem Grundsatz von Treu und Glauben widerspräche, der im Steuerrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz uneingeschränkt anerkannt ist (vgl. BFH, Urt. vom 8.2.1996 – V R 54/94, BFH/NV 1996, 733).
[22] Nach Art. 26 EuInsVO kann sich jeder Mitgliedstaat weigern, ein in einem anderen Mitgliedstaat eröffnetes Insolvenzverfahren anzuerkennen, soweit diese Anerkennung zu einem Ergebnis führt, das offensichtlich mit seiner öffentlichen Ordnung, insbes. mit den Grundprinzipien oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des Einzelnen, unvereinbar ist. Dabei handelt es sich um eine Ausnahmevorschrift, die nach der Rspr. des EuGH nur dann anzuwenden ist, wenn die Anerkennung der in einem Mitgliedstaat erlassenen Entscheidung gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstößt und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des zur Anerkennung verpflichteten Mitgliedstaats steht. [...] Im Rahmen eines Insolvenzverfahrens hat der Anspruch der Gläubiger oder ihrer Vertreter auf Teilnahme am Verfahren unter Beachtung des Grundsatzes der Waffengleichheit eine besondere Bedeutung.
[23] Allein die Möglichkeit, in Großbritannien schneller eine Restschuldbefreiung zu erreichen, genügt nicht, um die Voraussetzungen des Art. 26 EuInsVO zu bejahen. Ein Verstoß gegen die deutsche öffentliche Ordnung (ordre public) im Sinne eines Rechtsmissbrauchs kann sich jedoch daraus ergeben, dass eine nur vorübergehende Wohnsitzverlegung (bzw. des COMI) in einen anderen Staat erfolgt, um unter dort erleichterten Bedingungen eine Restschuldbefreiung zu erwirken (vgl. BGH, IX ZB 51/00). Im Fall einer rechtsmissbräuchlichen Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland nur zum Schein kann unter diesen Umständen das Ergebnis der Anwendung des ausländischen Rechts unter Beachtung inländischer Rechtsvorstellungen untragbar erscheinen (vgl. BGH aaO).
[24] Das FA hat substanziiert dargelegt, dass der ASt. seinen COMI nur zum Schein nach Großbritannien verlegt hat, um die Vorteile des britischen Insolvenzverfahrens in Form einer schnelleren Restschuldbefreiung erlangen zu können ...
[28] c) Der ASt. kann sich auch nicht auf die Restschuldbefreiung berufen, weil er im Rahmen des Bankruptcy-Verfahrens teilweise falsche Angaben gemacht hat und daher viel dafür spricht, dass ihm die discharge zu Unrecht erteilt worden ist.
[29] U.a. hat er die Gründung der Partnergesellschaft ... im April 2008 nicht in der Vermögensauskunft für den High Court of Justice angegeben.
[30] Auch verschiedene Tätigkeiten als Geschäftsführer in den letzten fünf Jahren vor der Antragstellung hat er nicht offengelegt. Dies betrifft drei in der Schweiz ansässige Gesellschaften, nämlich das Institut I-GmbH, das Institut J-AG und die K-AG, aus denen er im Jahr 2007 ausgeschieden war (...). Außerdem hat der ASt. in dem beim High Court of Justice abgegebenen Vermögensverzeichnis seine Tätigkeit als Mitgeschäftsführer bei der Steuerberatungsgesellschaft L-GmbH mit Sitz in A und seine Anteile an der M-GmbH nicht angegeben.
[31] Die Angaben des ASt. zu seinem Vermögen waren ferner insofern unvollständig, als er im Zeitpunkt der Insolvenzantragstellung beim High Court of Justice Eigentümer eines Appartements in (Ausland) gewesen ist. Für das Eigentum an dieser Wohnung sprechen die Entrichtung der Grundsteuer und die Angabe dieser Wohnung in einer Selbstauskunft vom 13.5.2008.
[32] d) Schließlich bestehen auch Bedenken gegen eine Anerkennung der Restschuldbefreiung, weil der ASt. das FA gegenüber dem High Court of Justice als Gläubiger verschwiegen hat und dieses somit im Rahmen des englischen Insolvenzverfahrens nicht entsprechend dem Verfahren nach Art. 40 EuInsVO angehört worden ist, obwohl viel dafür spricht, dass es hätte beteiligt werden müssen.
[33] Der Hinweis des ASt. auf eine Mitteilung über den Insolvenzbeschluss in der Presse ist nicht geeignet, die Gehörsverletzung auszugleichen, weil dies eine förmliche Mitteilung des englischen Gerichts gemäß Art. 40 EuInsVO nicht ersetzt.