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Verfahrensgang

BGH, Beschl. vom 21.11.2013 – IX ZB 44/12, IPRspr 2013-268

Rechtsgebiete

Anerkennung und Vollstreckung → Vermögensrechtliche Angelegenheiten

Leitsatz

Bei der im Exequaturverfahren möglichen Auslegung und Konkretisierung eines ausländischen Vollstreckungstitels können auch Forderungen, welche im ausländischen Vollstreckungstitel nicht ausdrücklich erwähnt werden, im Inland für vollstreckbar erklärt werden, sofern sie im Erststaat ohne eine solche Titulierung im Wege der Zwangsvollstreckung beigetrieben werden können.

Rechtsnormen

AVAG § 15
Cc (Frankr.) Art. 1202
EUGVVO 44/2001 Art. 38; EUGVVO 44/2001 Art. 38 ff.; EUGVVO 44/2001 Art. 44
GG Art. 103
NCPC (Frankr.) Art. 625; NCPC (Frankr.) Art. 1034
ZPO § 139; ZPO § 574; ZPO § 577

Sachverhalt

Dem Exequaturverfahren liegt ein Schadensersatzprozess nach einem Flugzeugabsturz zugrunde. Der Tribunal de grande instance Verdun legte den Schaden der AGg. und ihrer Mutter auf 400 000 DM fest und verurteilte die ASt., an die AGg. und ihre Mutter 332 616,25 DM zu zahlen. Die Cour d'appel Nancy bestätigte diese Entscheidung und erstreckte die Zahlungsverpflichtungen der ASt. auf die Witwe des Piloten als Gesamtschuldnerin. Das Berufungsurteil wurde im Revisionsverfahren mit Urteil der Cour de cassation vom 25.11.1997 – berichtigt durch Entscheidung vom 18.2.2003 – aufgehoben. In dem an das Berufungsgericht zurückverwiesenen Verfahren erging am 28.5.2009 eine Versäumnisentscheidung, die nach einem Einspruch mit Urteil vom 17.6.2013 bestätigt wurde und nach der die ASt. und die Witwe des Piloten verurteilt wurden, an die D. 201 858,03 € zu zahlen.

Die ASt. begehrt von der AGg. die Erstattung der Zahlung in Höhe von 332 616,25 DM (170 063,99 €), die sie nach ihrer Behauptung aufgrund des aufgehobenen Berufungsurteils geleistet hat, und betreibt zu diesem Zweck das Exequaturverfahren in Deutschland. Das LG hat die Entscheidung der Cour de cassation vom 18.2.2003 für vollstreckbar erklärt und die zu vollstreckende Verpflichtung dahin konkretisiert, dass die AGg. an die ASt. einen Betrag von 170 063,99 € zu zahlen habe. Auf die Beschwerde der AGg. hat das OLG den Beschluss des LG aufgehoben und den Antrag auf Vollstreckbarerklärung zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der ASt.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 574 I 1 Nr. 1 ZPO, 15 AVAG, Art. 44 EuGVO statthaft und auch im Übrigen zulässig (§ 574 II Nr. 2 ZPO). Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das BeschwG.

[2]1. ... 2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Vollstreckbarerklärung nach Art. 38 I EuGVO kann nicht mit der Begründung versagt werden, das französische Kassationsurteil sei zur Höhe der Rückzahlungsverpflichtung zu unbestimmt.

[3]a) Zutreffend ist, dass nach dem deutschen Vollstreckungsrecht ein Vollstreckungstitel den durchzusetzenden Anspruch des Gläubigers ausweisen und den Inhalt sowie den Umfang der Leistungspflicht bezeichnen muss. Der Titel kann notfalls durch das Vollstreckungsorgan ausgelegt werden, soweit dieser aus sich heraus genügend bestimmt ist oder jedenfalls sämtliche Kriterien für seine Bestimmbarkeit eindeutig festlegt (vgl. BGH, Urt. vom 6.11.1985 – IVb ZR 73/84 (IPRspr. 1985 Nr. 184), NJW 1986, 1440). Bei Vollstreckungstiteln aus dem Ausland gelten diese Anforderungen nicht für die ausländische Entscheidung selbst, sondern vielmehr für die inländische Entscheidung über die Vollstreckbarkeit, welche maßgebliche Grundlage für die Zwangsvollstreckung im Inland ist (BGH, Urt. vom 6.11.1985, aaO 1441; Beschl. vom 4.3.1993 – IX ZB 55/92 (IPRspr. 1993 Nr. 171), BGHZ 122, 16, 18).

[4]aa) Sollte der ausländische Titel den deutschen Anforderungen an die Bestimmtheit nicht genügen, hat das deutsche Gericht im Interesse der Titelfreizügigkeit eine Konkretisierung oder Ergänzung des Ausspruchs durch Auslegung im Exequaturverfahren vorzunehmen (vgl. BGH, Beschl. vom 4.3.1993, aaO 18 f.; vom 30.11.2011 – III ZB 19/11 (IPRspr. 2011 Nr. 297), WM 2012, 179 Rz. 6). Diese ist möglich, wenn sich die Kriterien hierfür aus den ausländischen Vorschriften oder ähnlichen im Inland gleichermaßen zugänglichen und sicher feststellbaren Umständen ableiten lassen (BGH, Urt. vom 6.11.1985 aaO; Spiecker genannt Döhmann, Die Anerkennung von Rechtskraftwirkungen ausländischer Urteile, 2002, 156). Gegebenenfalls kann eine Beweisaufnahme zum ausländischen Recht geboten sein, um den ausländischen Titel konkretisieren zu können. Nur wenn dies nicht zuverlässig möglich ist, muss der Antrag zurückgewiesen werden (vgl. BGH, Beschl. vom 30.11.2011 aaO).

[5]Grundsätzlich können auch Forderungen, welche im ausländischen Vollstreckungstitel nicht ausdrücklich erwähnt werden, im Inland für vollstreckbar erklärt werden, sofern diese Forderungen im Erststaat ohne eine solche Titulierung im Wege der Zwangsvollstreckung beigetrieben werden können (Seidl, Ausländische Vollstreckungstitel und inländischer Bestimmtheitsgrundsatz, 2010, 172 f.). Denn der Inhalt und der Umfang der Vollstreckbarkeit eines Titels bestimmen sich nach dem Recht des Erststaats (Rauscher-Mankowski, EuZPR/EuIPR, 2011, Art. 38 Brüssel I-VO Rz. 24; Simons-Hausmann-Althammer, Brüssel I-Verordnung, 2012, Art. 38 Rz. 27; Seidl aaO 51; Mansel, IPRax 1995, 362, 363). Daher ist im Lichte der ausländischen Tenorierungsgewohnheiten zu ermitteln, ob dem für vollstreckbar zu erklärenden Urteil ein Leistungsbefehl gegen den Antragsgegner zu entnehmen ist (Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, 3. Aufl., Art. 38 EuGVVO Rz. 2; Rauscher-Mankowski aaO).

[6]bb) Danach kann von einer Zahlungsverpflichtung der AGg. aufgrund des Urteils der Cour de cassation vom 25.11.1997 i. d. ber. F. vom 18.2.2003 ausgegangen werden. Nach der Rspr. der Cour de cassation besteht keine Verpflichtung des Rechtsmittelgerichts, eine Verpflichtung zur Erstattung von Zahlungen anzuordnen, die auf die kassierte Entscheidung der Vorinstanz geleistet wurden. Diese Verpflichtung folgt vielmehr schon kraft Gesetzes aus der Aufhebung der angegriffenen Entscheidung (Cass., Urt. vom 20.3.1990, Bull. civ., V, Nr. 126; vom 13.1.2009, Nr. 08-11992). Eine weitere Konkretisierung der Rückzahlungspflicht ist nach französischem Recht für diese Konstellation nicht vorgesehen. Da das Kassationsurteil nach französischem Recht auch ohne ausdrücklichen Ausspruch die Verpflichtung enthält, die im Hinblick auf die aufgehobene Entscheidung erhaltenen Zahlungen zu erstatten, ist es einer Vollstreckbarerklärung im Inland zugänglich (Seidl aaO 178; Smyrek, RIW 2005, 695, 696 m.w.N.; vgl. auch Geimer, IZPR, 6. Aufl., Rz. 3160c; Zöller-Geimer, ZPO, 30. Aufl., § 722 Rz. 56d; Rauscher-Mankowski aaO; a.A. LG Stuttgart, RIW 2005, 709, 710 (IPRspr 2004-168)). Dementsprechend hat die Cour d'appel Nancy in dem im Rechtsbeschwerdeverfahren vorgelegten Urteil vom 17.6.2013 eine Entscheidung über den Antrag der ASt. auf Verurteilung der Mutter der AGg. zur Rückerstattung der in Ausführung des kassierten Berufungsurteils geleisteten Zahlung mit der Begründung zurückgewiesen, dass sich dieser Anspruch schon aus dem Urteil der Cour de cassation vom 25.11.1997, ber. durch die Entscheidung vom 18.2.2003, ergebe.

[7]cc) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerdeerwiderung steht einer Vollstreckung aus dem Kassationsurteil nicht entgegen, dass der Rechtsstreit durch dieses Urteil nach Art. 625 I franz. NCPC lediglich in den Stand vor Erlass der aufgehobenen Entscheidung zurückversetzt worden ist (vgl. Smyrek aaO m.w.N.). Der Auffassung der Rechtsbeschwerdeerwiderung, es bleibe nach der Aufhebung der Berufungsentscheidung bei der in der ersten Instanz erfolgten Verurteilung der ASt. zur Zahlung von 332 616,25 DM, kann nicht gefolgt werden. Die ASt. hat das Verfahren nach der Zurückverweisung an das Berufungsgericht innerhalb der viermonatigen Frist des Art. 1034 I NCPC fortgeführt, so dass ihre Zahlungsverpflichtung aus dem erstinstanzlichen Urteil gegenüber der AGg. und ihrer Mutter nicht schon wegen Nichtbetreibens gemäß Art. 1034 II NCPC in Rechtskraft erwachsen ist. Vielmehr ist die Berufungsverhandlung wiederaufgenommen worden, wie die Entscheidung der Cour d'appel Nancy vom 28.5.2009 belegt. Nach der im Einspruchsverfahren ergangenen Entscheidung vom 17.6.2013 ist nur die Festsetzung des Schadens der AGg. und ihrer Mutter auf 400 000 DM und die Zahlungsverpflichtung der ASt. gegenüber der T. rechtskräftig geworden, während über die von der ASt. an die D. sowie an die AGg. und ihre Mutter zu leistenden Zahlungen neu zu entscheiden war.

[8]b) Die Auffassung des BeschwG, die Höhe der Rückzahlungsverpflichtung sei nicht hinreichend bestimmt, weil die auf den Betrag von 332 616,25 DM anzurechnenden Leistungen der Sozialversicherungsträger unbekannt seien, trifft jedoch nicht zu ...

[9]aa) Die Auffassung des BeschwG beruht auf einer fehlerhaften Auslegung des Urteils der Cour de cassation vom 18.2.2003 und des dort teilweise aufgehobenen Berufungsurteils vom 29.6.1994. Das Rechtsbeschwerdegericht kann diese Auslegung – wie diejenige aller staatlichen Hoheitsakte – selbst nachprüfen (BGH, Urt. vom 16.9.1993 – IX ZR 255/92, NJW 1994, 49, 50; MünchKommZPO-Krüger, 4. Aufl., § 546 Rz. 6 m.w.N.). Aus dem als Anlage zur Antragsschrift eingereichten Berufungsurteil vom 29.6.1994 geht hervor, dass der von der Vorinstanz bestimmte Schadenersatzanspruch der AGg. und ihrer Mutter gegenüber der ASt. bestätigt wurde ...

[10]bb) Die Annahme des BeschwG, die Höhe der Rückzahlungsverpflichtung sei aus dem zu vollstreckenden Urteil der Cour de cassation nicht hinreichend bestimmbar, beruht zudem auf einer Verletzung des Verfahrensgrundrechts der AGg. auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG). Das BeschwG hätte seine Entscheidung nicht auf diesen Gesichtspunkt stützen dürfen, ohne zuvor die Beteiligten darauf hinzuweisen und ihnen Gelegenheit zur Äußerung zu geben (§ 139 II ZPO), denn weder die ASt. noch die AGg. noch das LG hatten in Frage gestellt, dass es sich bei dem Betrag von 332 616,25 DM um den von der ASt. an die AGg. und ihre Mutter zu zahlenden Betrag handelte, bei dessen Ermittlung die bis dahin erfolgten Leistungen der Sozialversicherungsträger bereits berücksichtigt waren. Auf den gebotenen Hinweis hätte die ASt. die hierfür maßgeblichen Umstände darlegen und das BeschwG zur zutreffenden Auslegung veranlassen können.

[11]3. Die Beschwerdeentscheidung war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das BeschwG zurückzuverweisen (§ 577 IV 1 ZPO). Eine eigene Sachentscheidung kann der Senat nicht treffen, weil die Sache nach den bisher getroffenen Feststellungen nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 577 V 1 ZPO). Die Zurückverweisung gibt dem BeschwG Gelegenheit, weiter aufzuklären, ob das Urteil der Cour de cassation vom 25.11.1997 i. d. ber. F. der Entscheidung vom 18.2.2003 in Deutschland gemäß Art. 38 ff. EuGVO für vollstreckbar erklärt werden kann. Insbesondere wird es zu ermitteln haben, ob die AGg. – wovon das LG stillschweigend ausgegangen ist – gesamtschuldnerisch den vollen Betrag schuldet oder ob die Mutter der AGg. zur anteiligen oder alleinigen Zahlung verpflichtet ist. Eine Gesamtschuld bei einer teilbaren Leistung müsste entweder von den Beteiligten vereinbart worden oder gesetzlich angeordnet sein (vgl. Art. 1202 Cc; Bentele, Gesamtschuld und Erlass, 2006, 79 f.). Im Fall einer Gesamtschuld kann der Gläubiger nach französischem Recht unmittelbar die ganze Leistung von jedem Gesamtschuldner verlangen (Sonnenberger-Classen, Einführung in das französische Recht, 4. Aufl., 186).

Fundstellen

nur Leitsatz

BB, 2014, 2
FamRZ, 2014, 295

LS und Gründe

I.L.Pr., 2014, 12, 655
MDR, 2014, 112
NJW, 2014, 702
RIW, 2014, 307
WM, 2014, 42
ZInsO, 2014, 50
ZIP, 2014, 194

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2013-268

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