Die erstmals in der Revisionsinstanz erhobene Einrede nach Art. 5 des Protokolls über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht vom 23.11.2007 (ABl. Nr. L 331/19; HUP) ist vom Revisionsgericht zu berücksichtigen, wenn die Anwendung des HUP und des danach berufenen Sachrechts auf einem Verfahrensfehler beruht, die der Einrede zugrunde liegenden Tatsachen unstreitig sind und auch die weiteren Voraussetzungen vorliegen, die eine ausnahmsweise Berücksichtigung neuer Tatsachen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in der Revisionsinstanz zulassen.
Der ASt. ist deutscher Staatsangehöriger; die AGg. ist Staatsangehörige der Schweiz. Die Parteien heirateten 1990. Zwei Tage zuvor schlossen sie einen notariellen Ehevertrag. Dieser sah u.a. die Gütertrennung vor und einen Verzicht von nachehelichen Unterhalt. Die Parteien lebten bis zu ihrer Trennung im Oktober 2005 gemeinsam in Deutschland. Anschließend verzog die AGg. in die Schweiz. Das AG hat die Ehe mit Zustimmung der AGg. geschieden. Zudem hat es den ASt. unter Anwendung deutschen Rechts zur Zahlung monatlichen nachehelichen Unterhalts sowie zur Zahlung eines einmaligen Betrags verurteilt. Auf die Berufungen der Parteien hat das OLG den Ehegattenunterhalt heraufgesetzt, aber die Einmalzahlung reduziert. Hiergegen wenden sich die Parteien mit ihren vom Berufungsgericht zugelassenen Revisionen.
[1]Die Revision des ASt. ist zulässig und teilweise begründet. Die Revision der AGg. ist teilweise unzulässig und – soweit sie zulässig ist – ebenfalls nur teilweise begründet ...
[2]A. ... B. Die Revisionen der Parteien haben in der Sache jeweils nur teilweise Erfolg, die Revision des ASt., soweit er sich gegen die Ausgleichszahlung wendet, und die Revision der AGg., soweit sie einen höheren Unterhalt begehrt.
[3]I. Das Berufungsgericht hat den Unterhaltsanspruch auf § 2 des Ehevertrags i.V.m. Art. 125 Schweizer ZGB gestützt. Das hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Allerdings ist der vom OLG zugesprochene Unterhalt nach dem hier anzuwendenden deutschen Sachrecht mindestens in der ausgeurteilten Höhe gerechtfertigt.
[4]1. Die vom Berufungsgericht vorgenommene Auslegung des Ehevertrags, nach der der von der AGg. geltend gemachte Krankheitsunterhalt nicht ausgeschlossen ist, ist entgegen der Auffassung des ASt. revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
[5]a) ... b) Diese Auslegung hält den Angriffen der Revision des ASt. stand.
[6]aa) Die Auslegung von Verträgen ist grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten. Seine Auslegung kann vom Revisionsgericht nur darauf überprüft werden, ob der Auslegungsstoff vollständig berücksichtigt worden ist, ob gesetzliche oder allgemein anerkannte Auslegungsregeln, die Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt sind oder ob die Auslegung auf im Revisionsverfahren gerügten Verfahrensfehlern beruht, wobei die Auslegung auch ohne entspr. Rüge vom Revisionsgericht zu überprüfen ist (Senatsurteile vom 25.1.2012 – XII ZR 139/09, FamRZ 2012, 525 Rz. 30 und BGHZ 186, 1 = FamRZ 2010, 1238 Rz. 15 m.w.N.).
[7]bb) Gemessen hieran ist die vom OLG vorgenommene Auslegung aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Entgegen der Rüge der Revision ist die vertragliche Unterhaltsregelung bei dieser Auslegung auch nicht ‚sinnlos’. Denn mit der Regelung in § 2 Nr. 2.1 haben die Parteien einen Anspruch auf eine Unterhaltsbemessung nach § 1578 I 1 BGB bei fortdauernder Berufstätigkeit beider Ehegatten ausgeschlossen. Ohne diese Regelung müsste derjenige Ehegatte mit dem höheren Einkommen dem anderen Differenzunterhalt nach den ehelichen Lebensverhältnissen leisten.
[8]2. Das Berufungsgericht hat den Unterhaltsanspruch allerdings zu Unrecht auf Schweizer Sachrecht gestützt.
[9]a) ... b) Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision des ASt. im Ergebnis nicht stand.
[10]Auf den geltend gemachten Unterhaltsanspruch ist deutsches Recht anzuwenden. Dabei kann dahinstehen, ob das HUP im Verhältnis zur Schweiz dem Grunde nach bzw. bezogen auf die entspr. Übergangsvorschriften auf den vorliegenden Fall grundsätzlich unanwendbar ist und deshalb nach dem Haager Unterhaltsübereinkommen 1973 (HUÜ 73) deutsches Recht Anwendung findet. Denn jedenfalls hätte sich der ASt. für den Fall einer etwaigen Anwendung des HUP erfolgreich auf [dessen] Art. 5 berufen, womit ohnehin deutsches Sachrecht berufen wäre.
[11]aa) Es ist umstritten, ob das HUP gegenüber der Schweiz überhaupt zur Anwendung gelangt, weil die Schweiz diesem Abkommen (bislang) nicht beigetreten ist.
[12]Gemäß Art. 15 EuUnthVO bestimmt sich das auf Unterhaltspflichten anwendbare Recht für die Mitgliedstaaten, die durch das HUP gebunden sind, nach jenem Protokoll. Die EuUnthVO ist gemäß Art. 76 III seit dem 18.6.2011 anwendbar. Der Beschluss des Rates vom 30.11.2009 über den Beitritt zum HUP (Art. 4, ABl. Nr. L 331/17) sieht die innergemeinschaftliche Billigung des HUP, die Ermächtigung zu seiner rechtsverbindlichen Unterzeichnung, die vorläufige Anwendung ab dem 18.6.2011 sowie eine intertemporale Überleitungsregelung in Abweichung zum HUP vor (Andrae, GPR 2010, 196). Ausweislich Art. 18 HUP ersetzt dieses Protokoll im Verhältnis zwischen den Vertragsstaaten das Haager HUÜ 73.
[13]Da das HUP einerseits auch im Verhältnis zu Nichtvertragsstaaten anwendbar ist (Art. 2 HUP), die Schweiz aber andererseits – anders als beim HUÜ 73 – nicht beigetreten ist, ist streitig, ob das HUP gleichwohl auf die Schweiz anwendbar ist.
[14]Die h.M. in der Lit. stellt maßgeblich auf Art. 18 HUP ab und lehnt deswegen eine Anwendung im Verhältnis zur Schweiz ab (Ring, FPR 2013, 16; Henrich, Internationales Scheidungsrecht, 3. Aufl., Rz. 136; Erman-Hohloch, BGB, 13. Aufl., Art. 18 EGBGB a.F./UnthProt Rz. 1; Özen/Odendahl, FamRBint 2012, 11, 13; Meyer, FPR 2013, 83, 87; Andrae aaO 200; Palandt-Thorn, BGB, 72. Aufl., Art. 18 HUntProt Rz. 53).
[15]Die Gegenmeinung stellt maßgeblich auf Art. 2 HUP ab, wonach das von dem Übereinkommen bestimmte Recht unabhängig vom Erfordernis der Gegenseitigkeit anzuwenden ist, auch wenn es das Recht eines Nichtvertragsstaats ist (vgl. Conti/Bißmaier, FamRBint 2011, 62, 63; s. auch BT-Drucks. 17/4887 S. 53).
[16]Der Senat ist zu einer abschließenden Beantwortung dieser Streitfrage nicht berufen. Mit der Ratifikation durch die EU ist das HUP Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung geworden. Auslegungsfragen, die vor mitgliedstaatlichen Gerichten entstehen, sind daher dem EuGH gemäß Art. 267 AEUV vorzulegen (vgl. dazu Rauscher/Pabst, GPR 2011, 41, 47 und Wendl-Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 8. Aufl., § 9 Rz. 2). Letztlich kann die Frage aber aus den unten zu cc) dargestellten Gründen dahinstehen.
[17]bb) Auch kann die – ebenfalls streitige – Frage dahinstehen, ob das HUP nach den entspr. Übergangsregelungen auf Unterhaltsverfahren Anwendung finden kann, die – wie hier – vor Anwendbarkeit der EuUnthVO, also vor dem 18.6.2011, eingeleitet worden sind (gegen eine Anwendung des HUP in [diesen] Fällen ... sprechen sich aus: Dimmler/Bißmaier, FPR 2013, 11, 12; Erman-Hohloch aaO; Coester-Waltjen, IPRax 2012, 528, 529; a.A. OLG Köln, FamRZ 2012, 1509, 1510 (IPRspr 2012-96); Rauscher/Andrae, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht [Bearb. 2010], Einl. HUntStProt Rz. 14; Conti/Bißmaier aaO 64).
[18]cc) Unabhängig von den genannten umstrittenen Rechtsfragen ist vorliegend im Ergebnis ohnehin deutsches Recht anzuwenden.
[19]Lehnte man eine Anwendung des HUP ab, wäre nach Art. 8 HUÜ 73 für die Unterhaltspflicht zwischen geschiedenen Ehegatten das auf die Scheidung angewandte Recht maßgebend. Das ist – wie das AG für den vorliegenden Fall zutreffend ausgeführt hat – gemäß Art. 17 I 1 EGBGB i.V.m. Art. 14 I Nr. 2 EGBGB deutsches Recht.
[20]Bei unterstellter Anwendung des HUP ist im Ergebnis ebenfalls deutsches Sachrecht auf den Unterhaltsanspruch anzuwenden. Nach Art. 5 HUP findet Art. 3 HUP, der für Unterhaltspflichten das Recht des Staats des gewöhnlichen Aufenthalts der berechtigten Person als maßgeblich anordnet, keine Anwendung, wenn eine der Parteien sich dagegen wendet und das Recht eines anderen Staats, insbes. des Staats ihres letzten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts, zu der betreffenden Ehe eine engere Verbindung aufweist.
[21]Der ASt. hat sich auf Art. 5 HUP berufen. Dieser erstmals in der Revisionsinstanz geltend gemachte Einwand ist vom Senat deswegen zu berücksichtigen, weil die Anwendung des HUP und damit des Schweizer Sachrechts auf einem Verfahrensfehler beruht und auch die weiteren Voraussetzungen vorliegen, die eine Berücksichtigung neuer Tatsachen in der Revisionsinstanz zulassen.
[22](1) Der ASt. hat in der Revisionsinstanz ausdrücklich erklärt, dass er sich nach Art. 5 HUP gegen die Anwendung Schweizer Rechts wende.
[23]Entgegen der Auffassung der AGg. sind die Voraussetzungen des Art. 5 HUP nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen erfüllt. Maßgeblich hierfür ist, dass das Recht eines anderen Staats, insbes. des Staats des letzten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts der Eheleute, zu der betreffenden Ehe eine engere Verbindung aufweist. In diesem Fall ist das Recht dieses anderen Staats anzuwenden. Hintergrund der als Einrede zu qualifizierenden Regelung des Art. 5 HUP (vgl. zum Begriff OLG Köln aaO; Palandt-Thorn aaO Art. 5 HUntProt Rz. 21; Andrae aaO 202 ‚kollisionsrechtliche Einrede’) ist das Vertrauen eines Ehegatten in diejenige Rechtsordnung, der sich beide Eheleute während des Bestehens der Ehe unterstellt haben (Dimmler/Bißmaier aaO 14).
[24]Danach ist deutsches Recht berufen. Die Eheleute haben 1990 in Deutschland geheiratet und bis zur Einleitung des Scheidungsverfahrens im Herbst 2005 in Deutschland gelebt. Der ASt. besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit; das gemeinsame Kind hat die deutsche Staatsangehörigkeit mit seiner Geburt erworben (vgl. § 4 I StAG). Da die Parteien ihre Ehe 15 Jahre lang in Deutschland gelebt haben, weist das deutsche Recht zu ihrer Ehe eine deutlich engere Verbindung auf als das Schweizer Recht. Daran ändert auch nichts, dass die AGg. mittlerweile rund siebeneinhalb Jahre mit dem Kind in der Schweiz lebt. Im Hinblick auf die eindeutige Sachlage bedarf es entgegen der Auffassung der AGg. keiner Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV.(2) Die erst in der Revisionsinstanz erhobene Einrede ist unter Berücksichtigung der hier vorliegenden Besonderheiten zu beachten.
[25](a) Zwar ist gemäß § 559 I ZPO neues Tatsachenvorbringen in der Revisionsinstanz grundsätzlich unbeachtlich ...
[26](b) Gemessen hieran kann sich der ASt. in der Revisionsinstanz ausnahmsweise auf die Anwendung des Art. 5 HUP berufen.
[27](aa) Zwar hätte der ASt. die Einrede bereits im instanzgerichtlichen Verfahren erheben können; bei den ihr zugrunde liegenden Tatsachen handelt es sich also nicht um solche, ‚die sich erst während der Revisionsinstanz ereignen’. Dass der ASt. die Einrede nicht früher erhoben hat, beruht jedoch auf einem Verfahrensfehler des Berufungsgerichts. Das Berufungsgericht hat nicht darauf hingewiesen, dass es seiner Entscheidung zum Unterhaltsrecht das HUP und damit Schweizer Sachrecht zugrunde legen werde. Damit liegt ein Verstoß gegen Art. 103 I GG vor.
[28]Ein Verstoß gegen die Hinweispflicht aus § 139 ZPO liegt vor, wenn das Berufungsgericht – wie hier – überraschend ausländisches Recht anwendet, die Parteien ihren Ausführungen dagegen ausschließlich deutsches Recht zugrunde gelegt haben und das Revisionsgericht an die Entscheidung des Berufungsgerichts über Bestehen und Inhalt des ausländischen Rechts gebunden ist (BGH, Urt. vom 19.12.1975 – I ZR 99/74 (IPRspr. 1975 Nr. 3), NJW 1976, 474). Entsprechendes muss gelten, wenn das der Anwendung ausländischen Rechts vorgeschaltete Kollisionsrecht den Parteien die Möglichkeit einräumt, die Anwendung der entsprechenden Kollisionsnorm mittels einer Einrede zu verhindern.
[29]Gemessen hieran hätte das Berufungsgericht auf die beabsichtigte Anwendung des HUP und damit des Schweizer Rechts hinweisen müssen. Nachdem das AG den Unterhaltsanspruch nach deutschem Recht beurteilt hatte, hat das Berufungsgericht in seinem der angefochtenen Entscheidung vorangegangen Hinweisbeschluss den Parteien mitgeteilt, den Unterhaltsrechtsstreit nach der ehevertraglichen Regelung i.V.m. § 1572 BGB und damit nach deutschem Recht entscheiden zu wollen, was die Parteien – soweit ersichtlich – nicht anders gesehen haben. Deshalb konnten sie nicht damit rechnen, dass das Berufungsgericht Schweizer Recht anwenden würde. Der ASt. hat in seiner Revision zudem dargetan, dass er bei entspr. Hinweis die Einrede aus Art. 5 HUP erhoben hätte.
[30](bb) Verwehrte man dem ASt. in einem Fall wie dem vorliegenden die Möglichkeit, in der Revisionsinstanz eine entsprechende Einrede zu erheben, wäre dies für ihn letztlich nicht hinnehmbar. Berücksichtigte der Senat die Einrede des ASt. im Revisionsverfahren nicht, müsste er die Frage, welches Recht anzuwenden ist, dem EuGH vorlegen. Käme dieser zu dem Ergebnis, dass das HUP nicht anzuwenden ist, wäre über Art. 8 HUÜ 73 das auf die Scheidung angewandte Recht, also deutsches Recht maßgebend. Würde der EuGH entscheiden, dass das HUP vorliegend anzuwenden sei, ist – jedenfalls im Revisionsverfahren – davon auszugehen, dass sich der ASt. im anschließenden Instanzverfahren auf Art. 5 HUP berufen würde mit der Folge, dass ebenfalls deutsches Recht anzuwenden wäre. Dies würde das Verfahren unnötig in die Länge ziehen und weitere Kosten verursachen, obgleich die der Einrede zugrunde liegenden Tatsachen unstreitig sind und vom Senat ohne weiteres seiner Entscheidung zugrunde gelegt werden können.