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Verfahrensgang

BGH, Beschl. vom 28.11.2007 – XII ZB 217/05, IPRspr 2007-179

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Durchführung des Verfahrens (bis 2019)
Verfahren → Rechts- und Amtshilfe

Leitsatz

Ob die Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks nach dem Verfahrensrecht des Ursprungsstaats ordnungsgemäß war, haben die Gerichte des Vollstreckungsstaats im Rahmen von Art. 6 des Haager Übereinkommens über die Anerkennung und Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen vom 2.10.1973 (BGBl. 1986 II 826) beziehungsweise des Art. 27 Nr. 2 EuGVÜ/LugÜ in eigener Zuständigkeit und Verantwortung ohne Bindung an die Feststellungen der Gerichte im Ursprungsstaat zu beurteilen.

Ob eine nach dem Verfahrensrecht des Ursprungsstaats ordnungsgemäße fiktive Zustellung so rechtzeitig erfolgte, dass der Schuldner eine im Sinne von Art. 6 des Haager Unterhaltsvollstreckungsübereinkommens beziehungsweise Art. 27 Nr. 2 EuGVÜ/LugÜ ausreichende Zeit zu seiner Verteidigung hatte, beurteilt sich unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls sowie unter Abwägung der schützenswerten Interessen des Gläubigers und des Schuldners.

Sofern weder internationale Übereinkommen noch das AVAG besondere Bestimmungen über die Art und Weise der Tatsachenermittlung und Wahrheitsfindung im Beschwerdeverfahren und insbesondere die Zulässigkeit des Freibeweises enthalten, richten sich diese grundsätzlich nach den einschlägigen Vorschriften der ZPO.

Rechtsnormen

AVAG § 15
BV (Schweiz) Art. 29
EuGVÜ Art. 27; EuGVÜ Art. 57
GG Art. 103
HUntÜ 2007 Art. 4 ff.; HUntÜ 2007 Art. 6; HUntÜ 2007 Art. 23
LugÜ Art. 5; LugÜ Art. 25 ff.; LugÜ Art. 26 ff.; LugÜ Art. 27; LugÜ Art. 34; LugÜ Art. 54; LugÜ Art. 57
SchKG (Schweiz) Art. 66
Unterhaltsvollstreck Art. 2
Verf (K. Graub./Schweiz) Art. 8
ZPO § 284; ZPO § 286; ZPO §§ 355 ff.; ZPO § 358a; ZPO § 370; ZPO § 495; ZPO § 525; ZPO §§ 567 ff.; ZPO § 574
ZPO (K. Graub./Schweiz) Art. 55; ZPO (K. Graub./Schweiz) Art. 84

Sachverhalt

Die Parteien, beide italienische Staatsangehörige, sind geschiedene Eheleute und streiten um die Vollstreckbarerklärung eines schweizerischen Unterhaltstitels.

Die Parteien haben im Jahre 1970 in C./Schweiz die Ehe geschlossen, wo sie nach der Eheschließung auch ihren gemeinsamen Wohnsitz nahmen. Aus der Ehe sind zwei mittlerweile volljährige Söhne, D. und F., hervorgegangen. Im Jahre 1985 verließ der AGg. die Schweiz im Zusammenhang mit einem dort gegen ihn geführten Strafverfahren; seither bestand kein weiterer Kontakt mehr zur ASt.

Die ASt. beantragte 1994 bei dem Bezirksgericht P./Schweiz die Ehescheidung und die Regelung verschiedener Scheidungsfolgen. Das Gericht bewilligte die Zustellung der Prozesseingabe und der Ladung des AGg. zur Hauptverhandlung durch öffentliche Bekanntmachung im kantonalen Amtsblatt, ohne dass sich der AGg. daraufhin auf das Verfahren einließ. Durch ein im Kontumazverfahren (Säumnisverfahren) am 31.3.1995 ergangenes Urteil des Bezirksgerichts P. wurde die Ehe der Parteien geschieden. Der AGg. wurde verurteilt, an die ASt. einen monatlichen Ehegattenunterhalt in Höhe von 500 CHF sowie einen monatlichen Kindesunterhalt für den Sohn F. in Höhe von 500 CHF bis längstens zu dessen Mündigkeit zu zahlen.

Durch einen bei dem LG im April 2005 angebrachten Antrag begehrte die ASt., das Urteil des Bezirksgerichts P. vom 31.3.1995 hinsichtlich der darin enthaltenen Aussprüche zum Ehegatten- und Kindesunterhalt nach den Vorschriften des Haager Unterhaltsvollstreckungsübereinkommens durch Erteilung der Vollstreckungsklausel für vollstreckbar zu erklären. Die Klauselerteilung wurde durch Beschluss vom 29.4.2005 durch den Vorsitzenden der zuständigen Zivilkammer angeordnet.

Gegen diesen Beschluss richtete sich die Beschwerde des AGg., mit der er geltend machte, dass die Voraussetzungen für eine Ediktalzustellung (öffentliche Zustellung) nicht vorgelegen hätten.

Das OLG hat die Beschwerde des AGg. zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich dessen Rechtsbeschwerde.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. Die Rechtsbeschwerde des AGg. ist gemäß § 574 I Nr. 1 ZPO i.V.m. § 15 I AVAG statthaft. Sie ist zulässig, weil eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung und zur Durchsetzung von Verfahrensgrundrechten des AGg. geboten ist (§ 574 II Nr. 2 ZPO).

[2]III. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet und führt zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung an das OLG.

[3]1. Die zum Ehegatten- und Kindesunterhalt getroffene Entscheidung des Bezirksgerichts P. könnte unter den hier obwaltenden Umständen sowohl auf Grundlage des Haager Übereinkommens über die Anerkennung und Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen vom 2.10.1973 (BGBl. 1986 II 825; im Folgenden: HUVÜ 73) als auch auf Grundlage des Luganer Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 16.9.1988 (im Folgenden: LugÜ) in Deutschland anerkannt und vollstreckt werden.

[4]a) Allerdings sind die Vorschriften des LugÜ hier nicht unmittelbar anzuwenden. Das zwischen der Schweiz und Deutschland am 1.3.1995 in Kraft getretene Übereinkommen gilt gemäß Art. 54 I LugÜ nur für solche Klagen, die nach dem Inkrafttreten des Übereinkommens erhoben wurden, was hier nicht der Fall gewesen ist. Da das Urteil vom 31.3.1995 allerdings nach dem Inkrafttreten des Übereinkommens ergangen ist, könnte die Entscheidung des Bezirksgerichts P. aufgrund des erweiterten intertemporalen Anwendungsbereichs gemäß Art. 54 II i.V.m. Art. 5 Nr. 2 LugÜ gleichwohl auch nach den Vorschriften der Art. 25 ff. LugÜ in Deutschland anerkannt und zur Zwangsvollstreckung zugelassen werden.

[5]b) Ausgangspunkt für die Prüfung, nach welchen Regelungen sich das Verfahren der Vollstreckbarerklärung beurteilt, ist Art. 57 I LugÜ. Diese Vorschrift lässt Spezialabkommen unberührt, zu denen auch das u.a. zwischen Deutschland und der Schweiz in Kraft befindliche HUVÜ 73 gehört. Somit besteht für den Titelgläubiger in jedem Fall die Möglichkeit, das Verfahren der Anerkennung und Vollstreckbarerklärung nach den Art. 25 ff. LugÜ in Anspruch zu nehmen (Art. 57 V 2 LugÜ), wenn das Spezialabkommen insoweit keinen Vorrang beansprucht. Ist das Spezialabkommen – wie das HUVÜ 73 – im Hinblick auf die Ausgestaltung des Verfahrens offen, kann der Titelgläubiger in diesen Fällen das ihm am zweckmäßigsten erscheinende Verfahren nach seiner freien Entscheidung aus Art. 25 ff. LugÜ einerseits oder dem Spezialabkommen andererseits – i.V.m. den jeweiligen Ausführungsgesetzen – auswählen (vgl. zu Art. 57 EuGVÜ: EuGH, Urteil vom 27.2.997 – Rs C-220/95, Slg. 1997, I-1147, 1157 Rz. 26 ff., 1183 Rz. 17 [van den Boogaard/Laumen] = IPRax 1999, 35; vgl. zu Art. 71 Brüssel I-VO: Senatsbeschl. vom 14.3.2007 – XII ZB 174/04 (IPRspr 2007-207), FamRZ 2007, 989, 990 = BGHZ 171, 310). Von der Möglichkeit, für ein Verfahren der Vollstreckbarerklärung nach dem LugÜ zu optieren, hat die ASt. keinen Gebrauch gemacht, wobei sich in Deutschland allerdings die Ausführung beider Übereinkommen nach dem AVAG richtet.

[6]2. Die materiellen Voraussetzungen für die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung von ausländischen Unterhaltsentscheidungen ergeben sich aus den Art. 4 ff. HUVÜ 73. Allerdings gilt im Bereich des HUVÜ 73 das Günstigkeitsprinzip des Art. 23 HUVÜ 73, wonach auch andere internationale Übereinkünfte zwischen dem Ursprungs- und dem Vollstreckungsstaat – hier Art. 26 ff. LugÜ – herangezogen werden können, um eine Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung zu erreichen.

[7]Einer näheren Erörterung dieser Frage bedarf es an dieser Stelle aber nicht, weil eine (nach dem autonomen Verfahrensrecht des Ursprungsstaats oder nach den im Urteilsstaat anwendbaren Staatsverträgen) ordnungsgemäße Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks sowohl nach Art. 6 HUVÜ 73 als auch nach Art. 34 II i.V.m. Art. 27 Nr. 2 LugÜ Voraussetzung für die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung einer ausländischen Säumnisentscheidung ist. Dabei hat das Gericht des Vollstreckungsstaats die Frage, ob die erfolgte Zustellung – hier nach dem Verfahrensrecht des schweizerischen Kantons Graubünden – ordnungsgemäß gewesen ist, in jedem Falle in eigener Zuständigkeit und Verantwortung und ohne Bindung an die Feststellungen des erststaatlichen Gerichts zu beurteilen (vgl. zu Art. 27 Nr. 2 EuGVÜ: EuGH, Urt. vom 3.7.1990 – Rs C-305/88, Slg. 1990, I-2725, 2749 f., Rz. 28 f. [Lancray/Peters] = IPRax 1991, 177; BGH, Beschl. vom 2.10.1991 – IX ZB 5/91, NJW 1992, 1239, 1241 (IPRspr. 1991 Nr. 210)).

[8]3. Im Verfahren vor den Bezirksgerichten des Kantons Graubünden ist die von der Klagepartei bei Gericht angebrachte Prozesseingabe der beklagten Partei mit der Aufforderung zuzustellen, innerhalb von zwanzig Tagen eine Prozessantwort einzureichen (Art. 84 I ZPO-Graubünden). Zustellungen im Wege einer öffentlichen Bekanntmachung im kantonalen Amtsblatt (sog. Ediktalzustellungen) sind entsprechend Art. 55 I 3 ZPO-Graubünden in solchen Fällen vorgesehen, in denen der Aufenthalt des Prozessgegners unbekannt ist.

[9]Der Aufenthalt einer Partei ist aber nicht bereits dann unbekannt, wenn die Gegenpartei oder das Gericht deren Aufenthaltsort nicht kennen. Der Begriff des ‚unbekannten’ Aufenthalts in Art. 55 I 3 ZPO-Graubünden stimmt insoweit mit demjenigen in Art. 66 IV Nr. 1 des schweizerischen Bundesgesetzes über Schuldbeitreibung und Konkurs vom 11.4.1889 (BS 3, 3; SchKG) überein. Eine Ediktalzustellung nach Art. 66 IV Nr. 1 SchKG kommt indessen nach der Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichts nur in Betracht, wenn der Kläger bzw. das Gericht zuvor alle sachdienlichen Nachforschungen zur Ermittlung des Aufenthalts veranstaltet haben (vgl. bereits BGE 56 I 89, 94 f.). Der Grundsatz, dass vor einer Ediktalzustellung zweckmäßige Nachforschungen nach dem Aufenthaltsort des Zustellungsadressaten angestellt werden müssen, gilt in gleicher Weise auch für alle kantonalen Verfahrensrechte (vgl. etwa die ausdrücklichen Regelungen in § 183 II GVG-Zürich, § 119 GO-Schwyz oder Art. 68 I ZPO-Nidwalden; vgl. auch Vogel-Spühler, Grundriss des Zivilprozessrechts, 8. Aufl., 235; Guldener, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl., 254 N. 76; Bischof, Die Zustellung im internationalen Rechtsverkehr in Zivil- oder Handelssachen, 1997, 72; vgl. weiterhin BGE 129 I 361, 364 zu Art. 111 ZPO-Bern). Dass dies für die Auslegung von Art. 55 I 3 ZPO-Graubünden nicht anders sein kann, ergibt sich auch aus verfassungsrechtlichen Erwägungen. Art. 8 der Verfassung des Kantons Graubünden vom 18.5./14.9.2003 (SR 131.226) gewährleistet die Verfahrensgarantien und den Rechtsschutz im Rahmen der schweizerischen Bundesverfassung; zu diesen Verfahrensgarantien gehört auch der Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen [Art. 29 II der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18.4.1999 (AS 1999, 2556)], aus denen die Verpflichtung zu Nachforschungen nach dem Aufenthaltsort des Zustellungsadressaten unmittelbar hergeleitet wird (vgl. BGE 56 aaO 96).

[10]4. Das OLG hat zu den Voraussetzungen der Ediktalzustellung das Folgende ausgeführt: Die Ast. und ihre beiden Söhne D. und F. hätten durch eidesstattliche Versicherungen glaubhaft gemacht, dass ihnen Aufenthaltsort und Wohnsitz des AGg. nicht bekannt gewesen seien. Die Glaubhaftigkeit dieser Darstellungen werde durch die verschiedenen von dem AGg. vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen nicht erschüttert. Die Erklärungen der ASt. und ihrer Söhne würden nämlich durch die eidesstattliche Versicherung des Rechtsanwalts Dr. M. bestätigt, dass ihm weder bei Klageerhebung noch im Verlauf des Scheidungsverfahrens der Aufenthaltsort bekannt gewesen sei. Rechtsanwalt Dr. M. habe zudem bekundet, dass der AGg. bei dem Telefongespräch nicht zu bewegen gewesen sei, seinen Aufenthaltsort bekannt zu geben. Unter diesen Umständen begründeten die eidesstattlichen Versicherungen der ASt., ihrer beiden Söhne und des Rechtsanwalts Dr. M. die Überzeugung, dass der ASt. der Aufenthaltsort des AGg. nicht bekannt gewesen sei.

[11]Das Verfahren des Beschwerdegerichts zur Tatsachenfeststellung und die von ihm vorgenommene Würdigung halten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

[12]a) Dies beruht aber – entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde – nicht bereits darauf, dass die Gewinnung von Beweismitteln im sogenannten Freibeweisverfahren schlechthin unzulässig gewesen wäre. Da weder die internationalen Übereinkommen noch das AVAG besondere Bestimmungen über die Art und Weise der Tatsachenermittlung und Wahrheitsfindung enthalten, richten sich diese grundsätzlich nach den einschlägigen Vorschriften der ZPO. In einem zivilprozessualen Beschwerdeverfahren (§§ 567 ff. ZPO) ist das Gericht an das sonst vorgeschriebene strenge Beweisverfahren der §§ 355 ff. ZPO nicht gebunden und auf die dort zugelassenen Beweismittel nicht beschränkt. Eine solche Beschränkung lässt sich weder aus dem Gesetz entnehmen noch aus allgemeinen zivilprozessualen Grundsätzen herleiten. Die Beweisaufnahmeregeln der §§ 355 ff. ZPO gelten unmittelbar nur für das landgerichtliche Erkenntnisverfahren im ersten Rechtszug; eine entsprechende Anwendung der für dieses Verfahren geltenden Vorschriften, die das Gesetz beispielsweise für das Verfahren vor den AGen (§ 495 ZPO) sowie für das Berufungsverfahren (§ 525 ZPO) ausdrücklich angeordnet hat, ist für das Verfahren der sofortigen Beschwerde nicht vorgesehen. Auch ein allgemeiner Grundsatz, dass in allen Verfahren der ZPO vom Erfordernis des Strengbeweises auszugehen sei, lässt sich in dieser Form nicht aufstellen. Richtig ist zwar, dass bestimmte Grundlagen des Beweisrechts – insbesondere zum Vorgang der Beweiswürdigung und zum Beweismaß (§ 286 ZPO) – zu den wesentlichen Verfahrensgrundsätzen der ZPO gehören. Dies gilt aber nicht für die in §§ 355 ff. ZPO vorgeschriebene Art der Beweisaufnahme, weil diese eindeutig auf Verfahrensabschnitte zugeschnitten ist, in denen eine mündliche Verhandlung stattfindet (§§ 358a, 370 I ZPO). In einem Beschwerdeverfahren ohne (obligatorische) mündliche Verhandlung ist der Freibeweis demgegenüber nicht schon von vornherein ausgeschlossen (MünchKommZPO-Prütting, 2. Aufl., § 284 Rz. 31; Baumbach-Lauterbach-Albers-Hartmann, ZPO, 66. Aufl., Vor § 284 Rz. 9; Rosenberg-Schwab-Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl., § 109 Rz. 8; HK-ZPO/Saenger, 2. Aufl., § 284 Rz. 24). Daran hat sich durch die zum 1.9.2004 in Kraft getretene Neufassung des § 284 ZPO nichts geändert. § 284 Satz 2 ZPO ermöglicht es dem Gericht nunmehr, mit Zustimmung der Parteien im Wege des Freibeweises dort zu verfahren, wo bislang nur eine förmliche Beweisaufnahme nach Strengbeweisregeln stattfinden konnte. Für die Annahme, dass der Freibeweis jetzt auch in solchen Verfahrensabschnitten an das Einverständnis der Parteien gebunden sein sollte, in denen er bisher auch ohne diese Zustimmung für prozessual zulässig gehalten wurde, lässt sich indessen weder aus der Vorschrift selbst noch aus der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 15/1508 S. 18) etwas entnehmen.

[13]b) Auch steht es der Annahme einer ordnungsgemäßen Ediktalzustellung nicht entgegen, dass den in Italien wohnenden Angehörigen des AGg. dessen Aufenthaltsort in Deutschland bekannt gewesen ist. Der Aufenthaltsort einer Person kann auch dann allgemein unbekannt sein, wenn er von einem Dritten verschwiegen wird, der diesen Ort kennt (vgl. zu § 185 ZPO: Zöller-Stöber, ZPO, 26. Aufl., § 185 Rz. 2). Dass die italienischen Angehörigen des AGg. überhaupt bereit gewesen wären, der ASt. den Aufenthaltsort des AGg. in Deutschland preiszugeben, um ihr die Verfolgung von Unterhaltsansprüchen gegen den AGg. zu ermöglichen, behauptet der AGg. selbst nicht. Darüber hinaus ist nach dem unbestrittenen Vorbringen der ASt. ein an die Schwester des AGg. gerichtetes Anwaltsschreiben mit der Bitte um Bekanntgabe der Anschrift des AGg. unbeantwortet geblieben. Unter diesen Umständen durften weitere Nachforschungen bei den Angehörigen des AGg. in Italien nach dessen Aufenthaltsort unterbleiben.

[14]c) Bedenken begegnet demgegenüber die Feststellung des OLG, dass den Söhnen der Parteien – mithin auch dem Sohn D. – in den Jahren 1994 und 1995 der Aufenthaltsort des AGg. unbekannt gewesen sei ...

[15]Der AGg. hat insoweit – nach den Umständen des Falls auch hinreichend substantiiert – unter Beweisantritt vorgetragen, dass der Sohn D. der Parteien im Jahre 1992 von dem Nachtclubbesitzer B. anlässlich eines Lokalbesuchs Anschrift und Telefonnummer des AGg. erhalten habe, und dieses Vorbringen zusätzlich durch Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung des B. glaubhaft gemacht. Soweit das OLG dazu (lediglich) ausführt, dass die von dem AGg. beigebrachten eidesstattlichen Versicherungen nicht geeignet seien, die von der ASt. beigebrachten eidesstattlichen Versicherungen zu entkräften, rügt die Rechtsbeschwerde in diesem Punkt zu Recht eine Verletzung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruchs des AGg. auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG) ...

[16]5. Die angefochtene Entscheidung beruht auf dem dargestellten Gehörsverstoß. Das Verfahrensrecht des Kantons Graubünden hätte im vorliegenden Fall eine Ediktalzustellung der Prozesseingabe unter keinen anderen Voraussetzungen zulassen dürfen als bei einem unbekannten Aufenthalt des AGg. im Sinne von Art. 55 I 3 ZPO-Graubünden:

[17]Entsprechend Art. 55 II ZPO-Graubünden ist die öffentliche Zustellung gegenüber im Ausland wohnenden Personen allerdings auch dann zulässig, wenn sie es trotz Aufforderung unterlassen, durch Ernennung eines Vertreters im Kanton Zustellungsdomizil zu nehmen. Die Zulässigkeit der öffentlichen Zustellung setzt in diesen Fällen aber zwingend voraus, dass die im Ausland lebende Partei zuvor eine Mitteilung mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die Vorschrift und ihre Rechtsfolgen zur Kenntnis erlangt hat. Bereits daran fehlt es im vorliegenden Fall.

[18]Ferner wird nach der Rechtsprechung des Kantonsgerichts Graubünden (Urt. vom 19.11.1996 – ZB 96 47, Praxis des Kantonsgerichts Graubünden [PKG] 1996, Nr. 19, 87, 90 f.) über den Wortlaut des Art. 55 ZPO-Graubünden hinaus eine öffentliche Zustellung auch dann für zulässig gehalten, wenn die effektive Zustellung an eine im Ausland lebende Partei trotz größtem Bemühen unmöglich ist; dabei sind insbesondere solche Fälle ins Auge gefasst, in denen feststeht, dass der ersuchte Staat keine effektive Rechtshilfe bei der Zustellung leisten wird. Auch damit kann die Ediktalzustellung hier ersichtlich nicht gerechtfertigt werden.

[19]IV. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf das Folgende hin:

[20]Auch wenn das OLG nach Durchführung der gebotenen Beweisaufnahme feststellen sollte, dass der Aufenthalt des AGg. unbekannt im Sinne von Art. 55 I 3 ZPO-Graubünden gewesen ist und die Ediktalzustellung daher im Einklang mit dem Verfahrensrecht des Urteilsstaats erfolgte, besagt dies allein noch nicht, dass der Anerkennung in dieser Beziehung keine weiteren Hindernisse mehr entgegenstünden.

[21]1. Sowohl nach Art. 6 HUVÜ 73 als auch nach Art. 27 Nr. 2 LugÜ sind Ordnungsmäßigkeit und Rechtzeitigkeit der Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks kumulative Voraussetzungen für die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung einer ausländischen Säumnisentscheidung. Fiktive Zustellungen – wie die öffentliche Zustellung oder die Zustellung durch Übergabe an den Staatsanwalt (remise au parquet) nach französischem Recht – werden im Regelfall nicht ‚rechtzeitig’ im Sinne der Übereinkommen sein, weil sie dem Schuldner meistens keine effektive Möglichkeit eröffnen, vom Inhalt des zuzustellenden Schriftstücks tatsächlich Kenntnis zu nehmen und sich in das Verfahren im Ursprungsstaat einzulassen (vgl. zu Art. 27 Nr. 2 LugÜ: österr. OGH, Ent. vom 20.9.2000 – 3 Ob 179/00w, ZfRV 2001, 114, 116; vgl. auch Linke, IPRax 1993, 295, 296). Obwohl eine fiktive Zustellung aus diesem Grunde vielfach auch auf eine Fiktion der Kenntnisnahme hinausläuft, kann in einer fiktiven Zustellung aber kein generelles Anerkennungshindernis gesehen werden, weil auch im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr nicht derjenige Schuldner begünstigt werden soll, der sich der Rechtsprechung im Ursprungsstaat durch Aufenthalt an einem unbekannten Ort entzieht (vgl. zu Art. 27 Nr. 2 EuGVÜ: BGH, Beschl. vom 2.10.1991 aaO; Bülow-Bockstiegel-Geimer-Schütze-Wolf, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen [Stand: Mai 2007] Art. 27 EuGVÜ Rz. 29; MünchKommZPO-Gottwald aaO Art. 27 EuGVÜ Rz. 26). Um die Frage beurteilen zu können, ob sich die beklagte Partei im Exequaturverfahren auf die seine Verteidigungsmöglichkeiten beschränkende Ineffektivität der (ordnungsgemäßen) fiktiven Zustellung berufen kann, ist deshalb unter wertender Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls eine Abwägung zwischen den schützenswerten Interessen des Gläubigers und des Schuldners zu treffen.

[22]a) Unter der Geltung des Art. 27 Nr. 2 LugÜ sind dabei diejenigen Grundsätze heranzuziehen, welche durch die Rechtsprechung des EuGH im Jahre 1985 zu Art. 27 Nr. 2 EuGVÜ entwickelt worden sind (zur Einheitlichkeit der Auslegungsgrundsätze von EuGVÜ und LugÜ vgl. BGH, Urt. vom 23.10.2001 – XI ZR 83/01, NJW-RR 2002, 1149, 1150 (IPRspr. 2001 Nr. 152)). Danach ist bei der Abwägung aufseiten des Schuldners zu berücksichtigen, ob er die Ineffizienz der (fiktiven) Zustellung durch ein ihm vorwerfbares Verhalten herbeigeführt hat (EuGH, Urt. vom 11.6.1985 – Rs 49/84, Slg. 1985, 1779, 1801, Rz. 32 [Debaecker und Plouvier/Bouwman] = RiW 1985, 967). Von vergleichbaren Grundsätzen geht auch Art. 6 HUVÜ 73 aus; die Frage, ob sich der Schuldner eine fiktive Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks entgegenhalten lassen muss, wird dort unter Heranziehung der Maßstäbe aus Art. 2 Nr. 2 des Haager Übereinkommens über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen auf dem Gebiet der Unterhaltspflicht gegenüber Kindern vom 15.4.1958 (BGBl. 1961 II 1005; im Folgenden: HUVÜ 58) beurteilt (vgl. Staudinger-Kropholler, BGB [2003] Anh. III zu Art. 18 EGBGB Rz. 176). Die Anerkennung einer Säumnisentscheidung kommt danach insbesondere in solchen Fällen in Betracht, in denen der Schuldner sich einer andersartigen Zustellung mutwillig entzogen oder auf andere Weise seine Unkenntnis vom Verfahren verschuldet hat (vgl. Staudinger-Kropholler aaO Rz. 68 m.w.N.; Bülow-Bockstiegel-Geimer-Schütze-Baumann aaO Art. 6 HUVÜ 1973 Anm. IV 2 c). Nach beiden Übereinkommen kommt es bei der Abwägung aufseiten des Schuldners entscheidend darauf an, ob dieser die Veranlassung der fiktiven Zustellung an ihn zu vertreten hat. Soweit es dabei um die Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen geht, wird hinsichtlich des Vertretenmüssens einer fiktiven Zustellung regelmäßig von einem Beweis des ersten Anscheins zu Lasten des Unterhaltsschuldners auszugehen sein, wenn dieser in Kenntnis seiner möglichen Unterhaltspflicht die ihm gegenüber unterhaltsberechtigten Personen ohne Nachricht von seinem Aufenthaltsort zurücklässt (vgl. zu Art. 2 Nr. 2 HUVÜ 58: österr. OGH, Ent. vom 30.10.2000 aaO).

[23]b) Andererseits sind in die Gesamtabwägung nicht nur die zurechenbaren Verhaltensweisen des Schuldners, sondern auch etwaige Nachlässigkeiten des Gläubigers einzubeziehen, die bei wertender Betrachtung möglicherweise zu einer Kompensation des auf Schuldnerseite liegenden Verhaltens führen. Dabei ist insbesondere an solche Fälle zu denken, in denen der Gläubiger nach der fiktiven Zustellung während des laufenden Verfahrens im Urteilsstaat den tatsächlichen Aufenthaltsort des Schuldners erfährt oder unschwer in Erfahrung bringen könnte (vgl. EuGH, Urt. vom 11.6.1985 aaO Rz. 31). In diesen Fällen könnte dem Schutz der Rechte des Schuldners das höhere Gewicht beizumessen sein, wenn es der Gläubiger im Ursprungsverfahren noch in der Hand gehabt hätte, auf eine erneute Zustellung an die nunmehr bekannt gewordene Anschrift des Schuldners zu drängen (vgl. Linke aaO).

Fundstellen

LS und Gründe

Europ. Leg. Forum, 2008, II-104, I-35
FamRZ, 2008, 390
FuR, 2008, 149
IHR, 2008, 74
MDR, 2008, 333
NJW, 2008, 1531
I.L.Pr., 2009, 2, 91

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