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Verfahrensgang

OLG Frankfurt/Main, Beschl. vom 16.01.2006 – 1 UF 40/04, IPRspr 2006-146

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Zuständigkeit in Ehe- und Kindschaftssachen

Leitsatz

Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte für ein isoliertes Sorgerechtsverfahren entfällt nicht dadurch, dass in Griechenland vor einem Mufti ein Verfahren auf Scheidung der Ehe betrieben wird. An sich hätte das deutsche Gericht, das mit dem isolierten Sorgerechtsverfahren befasst ist, gemäß der EheGVO seine Zuständigkeit zugunsten des für die Scheidung der Ehegatten zuständigen griechischen Gerichts verloren. Ein Zuständigkeitsverlust tritt jedoch nicht bei einem Scheidungsverfahren vor einem Inquistionsgericht der Muftia ein, da es sich bei diesem um eine Gerichtsbarkeit innerhalb der Religionsgemeinschaft der Parteien und nicht um eine staatliche Gerichtsbarkeit handelt.

Rechtsnormen

147/1914 Kodex Themidos (Griechenl.) Art. 4
1920/1991 MuslimischeGeistlicheG (Griechenland) Art. 5
2738/1941 EGZGB (Griechenland) Art. 6
BGB § 1626; BGB § 1671
EheGVO 1347/2000 Art. 2; EheGVO 1347/2000 Art. 15
EuEheVO 2201/2003 Art. 23; EuEheVO 2201/2003 Art. 64
FGG § 50
MSA Art. 1

Sachverhalt

Die Beteiligten zu 1) und zu 2), die beiden griechische Staatsangehörige muslimischen Glaubens sind, haben am 14.6.1993 die Ehe geschlossen, aus der zwei Kinder hervorgegangen sind. Nachdem der AGg. bereits im Laufe des Jahres 2002 zu der Annahme gelangte, die ASt. unterhalte ein ehewidriges Verhältnis zu einem anderen Mann, geriet die Ehe der Parteien zunehmend in eine Krise, was im März 2003 dazu führte, dass die ASt. mit den gemeinsamen Kindern aus der Ehewohnung auszog. Nach einem mehrwöchigen Aufenthalt in einem Frauenhaus bezog sie im April 2003 eine Wohnung in Y-Dorf, wo sie seitdem mit den Kindern lebt.

Die Parteien streiten darüber, wo die Kinder ihren Aufenthalt haben sollen.

Das AG hat mit dem angefochtenen Beschluss nach Anhörung der Eltern und der Kinder und nach Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens der Psychologin A. das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder auf den Kindesvater übertragen und den Vollzug dieser Entscheidung bis zum Eintritt ihrer Rechtskraft ausgesetzt. Mit ihrer fristgerechten Beschwerde strebt die ASt. weiterhin die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts für die Kinder auf sich an.

Nach Anhängigkeit des Sorgerechtsverfahrens betrieb der AGg. im Laufe des Jahres 2003 bei dem Mufti in O./Griechenland ein Verfahren auf Scheidung der Ehe und auf Regelung der elterlichen Sorge. Am 4.8.2003 erging eine Entscheidung des Mufti in O. des Inhalts, dass die Ehe der Parteien für geschieden erklärt, dem AGg. die Vormundschaft und elterliche Sorge für die Kinder übertragen, die Ausreise der Kinder aus Griechenland verboten und der ASt. ein Besuchs- und Kommunikationsrecht erteilt wurde, solange sie sich in Griechenland aufhalte. Diese Entscheidung wurde durch eine Verfügung des Landgerichts R. vom 4.9.2003 anerkannt und für vollstreckbar erklärt. Eine Anhörung der Kinder erfolgte weder durch das Inquisitionsgericht der Muftia in O. noch durch das Landgericht R.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]Auf die zulässige Beschwerde der ASt. ist die angefochtene Entscheidung abzuändern und das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder auf die Kindesmutter zu übertragen.

[2]Für die Regelung des Aufenthaltsbestimmungsrechts als Teilbereich der elterlichen Sorge sind die deutschen Gerichte bei Anhängigkeit des Sorgerechtsverfahrens international zuständig gewesen. Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. OLG Frankfurt, Beschl. vom 21.2.2005, NJW-RR 2005, 1674 (IPRspr 2005-191)) bestimmte sich bei einem selbständigen Sorgerechtsverfahren vor Inkrafttreten der EuEheVO die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte nach Art. 1 MSA. Da beide Kinder seit ihrer Geburt – und auch weiterhin – ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland leben, war daher bei Anhängigwerden des Verfahrens die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit gegeben.

[3]Diese Zuständigkeit ist hier nicht dadurch entfallen, dass der AGg. im späteren Verlauf in Griechenland vor einem Mufti das Scheidungsverfahren betrieb und eine entsprechende Entscheidung des Mufti in O. erwirkte. Zwar wäre mit Anhängigwerden eines Scheidungsverfahrens vor einem zuständigen staatlichen ausländischen Gericht ein bis dahin isoliertes Sorgerechtsverfahren der EheGVO unterfallen, wodurch für die Sorgerechtsregelung das Gericht des Scheidungsverfahrens zuständig geworden wäre (OLG Karlsruhe, FamRZ 2005, 287) (IPRspr. 2003 Nr. 210), wobei wegen Art. 2 I lit. b EheGVO eine Zuständigkeit eines staatlichen griechischen Gerichts im Hinblick auf die griechische Staatsangehörigkeit der Parteien anzuerkennen gewesen wäre. Bei [der Gerichtsbarkeit des Mufti] in O. handelt es sich jedoch um eine Gerichtsbarkeit innerhalb der Religionsgemeinschaft der Parteien und nicht um eine staatliche Gerichtsbarkeit.

[4]Art. 5 II des griechischen Gesetzes 1920/1991 [über die islamischen Geistlichen] vom 24.12.1990 regelt, dass der Mufti die Gerichtsbarkeit in Angelegenheiten zwischen den griechischen Muslimen seines Bezirks bezüglich der Ehe, der Ehescheidung, der Unterhaltspflichten, der Vormundschaft, der Kuratel, der Emanzipation Minderjähriger, der islamischen Testamente und der gesetzlichen Erbfolge ausübt, soweit sich diese Verhältnisse nach dem islamischen religiösen Gesetz bestimmen. Ferner ist in Art. 4 I des griechischen Gesetzes 147/1914 – Kodex Themidos – vom 5.1./1.2.1914 geregelt, dass sich die Eheverhältnisse der Anhänger des mohammedanischen oder israelitischen Glaubens nach ihrem religiösen Gesetz bestimmen und danach beurteilt werden, wobei diese Bestimmung für die griechischen Muslime auch nach der Einführung des griechischen Zivilgesetzbuchs am 15.3.1940 in Kraft geblieben ist, weil Art. 6 Satz 1 griech. EG zum ZGB (Notgesetz 2738/1941) vom 30.1.1941 diese Regelung nur für Griechen jüdischen Glaubens aufgehoben hat. (vgl. Bergmann-Ferid-Henrich, Das internationale Ehe- und Kindschaftsrecht, Griechenland [Stand: 1.1.2007] S. 22 m.w.N.). Hierdurch wird ein vor dem Mufti betriebenes Scheidungsverfahren jedoch nicht zu einer Ehesache vor einem staatlichen Gericht im Sinne der EheGVO. Denn auch das griechische Recht verleiht dem Mufti keine staatliche Gerichtsmacht, sondern verleiht seiner Entscheidung nur innerstaatliche Wirkungen für den Fall, dass sie von dem Einzelrichtergericht erster Instanz des Bezirks, in dem der Mufti seinen Sitz hat, für vollstreckbar erklärt wird (Art. 5 III 1 Gesetz 1920/1991). Dabei wird jedoch die Mufti-Entscheidung durch das staatliche Gericht nicht einer inhaltlichen Prüfung unterzogen, sondern es wird nur untersucht, ob die Entscheidung innerhalb der Grenzen der Gerichtsbarkeit des Mufti gefällt worden ist und ob die angewendeten Vorschriften gegen die griechische Verfassung verstoßen (Art. 5 III 2 Gesetz 1920/1991; vgl. Bergmann-Ferid-Henrich aaO S. 23). Durch die Entscheidung des Landgerichts R. vom 4.9.2003 über die Vollstreckbarerklärung ist das Scheidungsverfahren selbst nicht zu einem staatlichen Gerichtsverfahren erhoben worden, sondern es wurde lediglich für Griechenland innerstaatlich die Anerkennung der Mufti-Entscheidung ausgesprochen. Das Scheidungsverfahren selbst ist damit ein außerstaatliches Verfahren geblieben, das nicht dem Anwendungsbereich der EheGVO unterfällt, so dass es bei der internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit geblieben ist.

[5]Im Übrigen ist die Entscheidung des Mufti in O. zum Regelungsbereich der elterlichen Sorge auch nicht anerkennungsfähig.

[6]Die Anerkennungsfähigkeit einer Sorgerechtsentscheidung, die in einem vor Inkrafttreten der EuEheVO, aber nach Inkrafttreten der EheGVO anhängig gewordenen Verfahren ergangen ist, bestimmt sich gemäß Art. 64 I und III der EuEheVO über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung nach Maßgabe des Kapitels III. Abgesehen davon, dass es auch für die Frage der Anerkennungsfähigkeit darauf ankommt, dass es sich um eine Entscheidung oder Verfügung zuständiger staatlicher Gerichte oder Behörden handelt, woran es bei der Entscheidung des Mufti in O. fehlt, steht auch Art. 23 lit. b EuEheVO (ebenso Art. 15 II lit b EheGVO) der Anerkennungsfähigkeit entgegen, weil die Sorgerechtsentscheidung des Inquisitionsgerichts ergangen ist, ohne dass die betroffenen Kinder die Möglichkeit hatten, gehört zu werden. Dies verstößt gegen in § 50 FGG zum Ausdruck kommende wesentliche verfahrensrechtliche Grundsätze des deutschen Rechts.

[7]Das Aufenthaltsbestimmungsrecht, das im Hinblick auf den Aufenthalt der Kinder in der Bundesrepublik Deutschland dem deutschen materiellen Recht unterliegt, ist in Abänderung der angefochtenen Entscheidung gemäß § 1671 I i.V.m. II Nr. 2 BGB auf die ASt. zu übertragen.

[8]Die Beibehaltung des gemeinsamen Sorgerechts zu dem Teilbereich des Aufenthaltsbestimmungsrechts ist nicht möglich, da die Parteien keine Einigung über den Aufenthalt der Kinder erzielen können. Beide halten an ihrer jeweiligen Auffassung über den Aufenthalt der Kinder unnachgiebig fest und sind nicht in der Lage, hierüber eine gemeinsame Entscheidung zu treffen.

[9]Es ist zu erwarten, dass es dem Wohl der Kinder am ehesten dient, wenn das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf die ASt. übertragen wird. Die Kinder leben nun bereits seit nahezu drei Jahren bei der ASt. und werden von ihr erzogen und betreut. Die persönliche und schulische Entwicklung der Kinder ist in dieser Zeit positiv verlaufen. Weder aus der Anhörung der Parteien und der Kinder noch aus den Stellungnahmen des Jugendamts und der Verfahrenspflegerin ergeben sich Anhaltspunkte, die gegen die Erziehungseignung der ASt. sprechen könnten.

[10]Deren Erziehungseignung wird vom AGg. vor allem deshalb in Abrede gestellt, weil diese aus seiner Sicht aus der Ehe ausgebrochen sei, sich ehewidrig verhalten habe und deshalb kein Vorbild für die Kinder sein könne. Es kann dahinstehen, ob die vom AGg. erhobenen Vorwürfe im Hinblick auf ein ehewidriges Verhalten der ASt. begründet sind. Denn nachhaltige Defizite in der Erziehungseignung der ASt. ergeben sich hieraus nicht. Vielmehr belegt die Entwicklung der Kinder, dass die ASt. durchaus in der Lage ist, Bedürfnisse der Kinder zu erkennen und diese verantwortlich zu erziehen. Die Ausübung des Umgangsrechts ist zwar nicht störungsfrei, aber dennoch vergleichsweise kontinuierlich verlaufen. Die ASt. bringt – trotz der massiven, teilweise auch ehrverletzenden Vorhaltungen des AGg. – die erforderliche Bindungstoleranz auf, erkennt die Notwendigkeit regelmäßiger Kontakte der Kinder zu ihrem Vater an und unterstützt diese weitgehend. Demgegenüber ist im Falle eines Aufenthalts der Kinder beim AGg. der für die Kinder notwendige Kontakt zu beiden Elternteilen nicht hinreichend gewährleistet. Aus der Anhörung wurde deutlich, dass bei dem AGg. nach wie vor das Gefühl der Kränkung durch die ASt. vorherrschend ist und er jeden Einfluss der Kindesmutter auf die Kinder für schlecht hält. Bei dieser Sachlage ist zu befürchten, dass im Falle eines Aufenthaltswechsels unbelastete Kontakte der Kinder mit ihrer Mutter nicht möglich sein werden. Die Erhaltung möglichst unbelasteter Bindungen der Kinder zu beiden Elternteilen ist von erheblicher Bedeutung für die Entwicklung der Kinder (§ 1626 III BGB). Die Fähigkeit, diese Bindungen zu fördern, stellt ein wesentliches Merkmal der Erziehungseignung dar. Diese ist bei der ASt. eher vorhanden als bei dem AGg.

[11]Auch die wünschenswerte Kontinuität der Erziehung der Kinder spricht gegen einen Aufenthaltswechsel. Demgegenüber ist der Umstand, dass die Wohnverhältnisse bei der ASt. beengt sind und der AGg. großzügigere Wohnverhältnisse bieten kann, nicht von ausschlaggebender Bedeutung.

[12]Der Wille der Kinder steht der Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf die ASt. nicht entgegen. Es wurde aus der Anhörung deutlich, dass diese zu beiden Elternteilen enge Bindungen haben. Diese wollen sie nicht dadurch gefährden, dass ein Elternteil an ihrer Loyalität zweifeln könnte. Sie sind sehr darauf bedacht, jegliches Verhalten zu vermeiden, das von einem Elternteil als Parteinahme für den jeweils anderen Elternteil verstanden werden könnte. Dabei erleben die Kinder beide Elternteile so, dass diese von ihnen die Bestätigung einfordern, bei ihm/bei ihr leben zu wollen. In dem Bemühen, den jeweiligen Erwartungen ihrer Eltern zu entsprechen, artikulieren sie ihre eigenen Bedürfnisse nicht. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus nachvollziehbar, dass sowohl der Vater als auch die Mutter jeweils für sich die Überzeugung haben, nur der Aufenthalt bei ihm/bei ihr entspreche dem Willen der Kinder.

[13]Aus der Anhörung wurde deutlich, dass beide Kinder mit ihrer gegenwärtigen Situation zufrieden sind, in den letzten Jahren viele neue soziale Kontakte geknüpft haben und sie stolz auf das Erreichte sind. Es ergaben sich aus der Anhörung keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Kinder eine Veränderung wünschen. Die Kinder haben zueinander ganz intensive Bindungen, die sie auch nach außen kundtun, indem sie sich in gleicher Weise kleiden und sich, bei allen körperlichen Unterschieden, als Geschwister erkennbar machen. Auch die Mutter beziehen sie in diese Gemeinschaft ein. Insoweit hat die Beziehung der Kinder zu ihrer Mutter in den letzten Jahren an Intensität gewonnen. Die von der Sachverständigen seinerzeit gesehene intensivere Bindung der Kinder an den Vater vermag der Senat nicht festzustellen. Im Übrigen ist das Sachverständigengutachten aus dem Jahre 2003 im Hinblick auf den Zeitablauf und die Entwicklung der Verhältnisse als Grundlage für die jetzt zu treffende Entscheidung nicht geeignet.

[14]In der Gesamtschau ergeben sich für den Senat keine Umstände, die es gebieten würden, den gegenwärtigen Aufenthalt der Kinder zu ändern. Da dieser vom AGg. nicht akzeptiert wird, bedarf es der Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf die ASt.

Fundstellen

nur Leitsatz

FF, 2006, 327

LS und Gründe

NJOZ, 2006, 2652

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2006-146

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