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Verfahrensgang

OLG Zweibrücken, Beschl. vom 22.09.2005 – 3 W 175/05, IPRspr 2005-157

Rechtsgebiete

Anerkennung und Vollstreckung → Vermögensrechtliche Angelegenheiten

Leitsatz

Die Vollstreckbarerklärung eines italienischen Mahnbescheids (decreto ingiuntivo) scheidet mangels Vorliegen einer vollstreckbaren Entscheidung im Sinne der Art. 32, 38 EuGVO aus, wenn der Mahnbescheid ohne vorherige Anhörung des Antragsgegners für sofort vollstreckbar erklärt wurde.

Rechtsnormen

AVAG § 1; AVAG § 11
C. proc. civ. 1940 (Italien) Art. 633 ff.; C. proc. civ. 1940 (Italien) Art. 641; C. proc. civ. 1940 (Italien) Art. 647; C. proc. civ. 1940 (Italien) Art. 649
EGV-Amsterdam Art. 68
EMRK Art. 6
EUGVVO 44/2001 Art. 32; EUGVVO 44/2001 Art. 34; EUGVVO 44/2001 Art. 38; EUGVVO 44/2001 Art. 43
EuGVÜ Art. 25

Sachverhalt

Die Verfahrensbeteiligten sind zwei Unternehmen der Schuhindustrie, von denen die ASt. ihren Sitz in Italien und die AGg. ihren Sitz in Deutschland hat.

Wegen unbeglichener Forderungen aus der Lieferung von Schuhen, deren sich die ASt. berühmt, erwirkte diese bei dem italienischen Gericht gegen die AGg. ein „decreto ingiuntivo“ (Mahnbescheid) über 133 658,09 Euro nebst gesetzlicher Zinsen und Verfahrenskosten. Dieser Mahnbescheid wurde durch das italienische Gericht gemäß Art. 642 C. proc. civ. bereits zum Zeitpunkt seines Erlasses für sofort vollstreckbar erklärt. Eine vorherige Ladung oder Anhörung der AGg. ist in dem italienischen Ausgangsverfahren nicht erfolgt.

Entsprechend dem Begehren der ASt. hat das für den Sitz der AGg. zuständige LG Zweibrücken angeordnet, den vorbezeichneten italienischen Mahnbescheid mit der Vollstreckungsklausel zu versehen. Dagegen richtet sich die am 22.7.2005 eingelegte Beschwerde der AGg. mit Erfolg.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. Auf das vorliegende Verfahren betreffend die Vollstreckbarerklärung des gegen die AGg. in Italien erlassenen Mahnbescheids finden die Vorschriften der \linebreak EuGVO Anwendung, welche am 1.3.2002 in den Mitgliedstaaten der EU mit Ausnahme Dänemarks in Kraft getreten ist.

[2]Das Rechtsmittel ist danach gemäß Art. 43 EuGVO i.V.m. §§ 1 I Nr. 2, 11 I AVAG statthaft und auch im Übrigen verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden. Es ist rechtzeitig innerhalb der Frist des § 11 III AVAG beim OLG eingelegt worden und entspricht der von § 11 I 1 AVAG bestimmten Form.

[3]Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Das ‚decreto ingiuntivo’ des [italienischen Gerichts] vom 3.8.2004 ist im Streitfall, weil es absichtlich ohne vorherige Anhörung der AGg. in vorläufig (sofort) vollstreckbarer Form erlassen wurde, keine Entscheidung im Sinne der Art. 32, 38 EuGVO, die im Inland für vollstreckbar erklärt werden kann.

[4]Im Einzelnen gilt dazu Folgendes:

[5]1. Zwar ist das ‚decreto ingiuntivo’ im Sinne des Vierten Buches der italienischen Zivilprozessordnung (Art. 633 bis 656 C. proc. civ.) unbeschadet des summarischen Charakters des ‚procedimento d'ingiunzione’ dann eine gerichtliche Entscheidung im Sinne des Art. 32 EuGVO, wenn es – wie im Normalfall (Art. 641, 647 C. proc. civ.) – erst dann für vollstreckbar erklärt wird, wenn die Widerspruchsfrist von (in der Regel) 40 Tagen abgelaufen sowie innerhalb der Frist entweder kein Widerspruch eingegangen ist oder derjenige, der den Widerspruch erhoben hat, sich nicht auf das Verfahren eingelassen hat (vgl. OLG Köln, Beschl. vom 17.11.2004 – 16 W 31/04 (IPRspr 2004-169), zit. n. juris; EuGH, IPRax 1996, 262, 263; Kruis, IPRax 2001, 56, 57; Geimer-Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 2. Aufl., Art. 32 EuGVVO Rz. 30).

[6]2. Indes können nach der gefestigten Rechtsprechung des EuGH (vgl. EuGHE 1980, 1553 [Denilauler] = IPRax 1981, 95 und EuGH, IPRax 1996, 262 [Hengst BV/Campese]) sog. Ex-parte-Entscheidungen (ohne Möglichkeit der vorherigen Anhörung für den Beklagten) nicht nach dem in Kapitel III der EuGVO vorgesehenen Verfahren anerkannt und vollstreckt werden (vgl. hierzu Geimer-Schütze Rz. 35; Rauscher-Leible, Europäisches Zivilprozessrecht, 2004, Art. 32 Brüssel I-VO Rz. 12; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 8. Aufl., Art. 32 EuGVO Rz. 22; Musielak-Weth, ZPO, 4. Aufl., Art. 32 EuGVO Rz. 5; MünchKommZPO-Gottwald, 2. Aufl., Art. 32 EuGVO Rz. 1 und Art. 25 EuGVÜ Rz. 15; Baumbach-Lauterbach-Albers-Hartmann, ZPO, 63. Aufl., Art. 32 EuGVVO Rz. 1; Thomas-Putzo-Hüßtege, ZPO, 26. Aufl., Art. 32 EuGVVO Rz. 4; speziell für das italienische ‚decreto ingiuntivo’ Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, 2. Aufl., Art. 32 Rz. 6 und Kruis, IPRax 2001, 56, 58).

[7]In seiner Entscheidung vom 21.5.1980 (Rs C-125/79 [Denilauler] = IPRax 1981, 95 f.) hat der EuGH diese dem Schutz des Beklagten/Schuldners dienende Einschränkung (noch unter der Geltung des EuGVÜ) im Wesentlichen wie folgt begründet: Die Bestimmungen des EuGVÜ (lies nunmehr im Folgenden auch: der EuGVO) brächten insgesamt das Bestreben zum Ausdruck, sicherzustellen, dass im Rahmen der Ziele des Übereinkommens die Verfahren, die zum Erlass gerichtlicher Entscheidungen führen, unter Wahrung des rechtlichen Gehörs durchgeführt werden. Im Hinblick auf die dem Beklagten im Urteilsverfahren eingeräumten Garantien handhabe das Übereinkommen in seinem Titel III die Anerkennung und Vollstreckung sehr großzügig. Daraus folgt für den EuGH, dass das EuGVÜ in Art. 25 (und nun die EuGVO in Art. 32) maßgeblich auf solche gerichtlichen Entscheidungen abstellt, denen im Urteilsstaat ein kontradiktorisches Verfahren vorangegangen ist oder hätte vorangehen können.

[8]Deshalb kommt nach der Rechtsprechung des EuGH das in dem EuGVÜ (jetzt: der EuGVO) geregelte vereinfachte Vollstreckungsverfahren solchen gerichtlichen Entscheidungen nicht zugute, vor deren Erlass – wie im hier zu entscheidenden Fall – im Urteilsstaat die Gegenpartei ihre Rechte mangels Gewährung rechtlichen Gehörs nicht geltend machen konnte (EuGH, IPRax 1981, 95, 96 und IPRax 1996, 262, 263). Verlangt wird vielmehr ein prinzipiell und von Beginn an kontradiktorisch angelegtes Verfahren.

[9]Da auch die nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl. insoweit OLG Karlsruhe, FamRZ 2001, 1623 (IPRspr. 2001 Nr. 189)) oder die Möglichkeit, nachträglich ein Rechtsmittel einzulegen (Rauscher-Leible aaO m.w.N.; Kropholler Rz. 23), nicht genügen, war auch dem Hilfsantrag der ASt. auf vorläufige Aussetzung des vorliegenden Verfahrens bis zur etwaigen Bestätigung des ‚decreto ingiuntivo’ in dem italienischen Ausgangsverfahren nicht zu entsprechen.

[10]Soweit sich die ASt. auf die (Kammer-)Entscheidung des EuGH vom 14.10.2004 (Rs C-39/02 [Maersk], dort Nr. 46 ff., zit. n. juris) beruft, hält der Senat die tatsächlichen Fallumstände mit den vorliegenden nicht für vergleichbar. In jenem einen Beschluss zur Errichtung eines Haftungsbeschränkungsfonds betreffenden Verfahren wurde nämlich der zur Beurteilung stehende Beschluss erst wirksam, nachdem er den betroffenen Gläubigern mitgeteilt worden war und konnten diese darüber hinaus Rechtsmittel gegen den Beschluss einlegen. Im vorliegenden Fall wurde hingegen der italienische Mahnbescheid für sofort vollstreckbar erklärt und ist für die AGg. mit Blick auf Art. 649 C. proc. civ. kein Rechtsmittel mit Suspensiv- oder Devolutiv-Effekt gegen die Vollstreckbarerklärung eröffnet.

[11]3. Allerdings ist die Rechtsprechung des EuGH zur Ausnahme von Ex-parte-Entscheidungen von der vereinfachten Vollstreckbarerklärung in der Literatur auf Kritik gestoßen und halten einzelne Stimmen sie auf Art. 32, 38 EuGVO nicht für übertragbar (so etwa Micklitz/Rott, EuZW 2002, 15, 16 und Geimer-Schütze aaO Art. 34 Rz. 107). Dieser Auffassung vermag sich der Senat jedoch nicht anzuschließen. Die EuGVO betont in Erwägungsgrund Nr. 19 die Kontinuität der Verordnung zum EuGVÜ. Die tragenden Erwägungen der Denilauler-Rechtsprechung, wonach die vorherige Gewährung rechtlichen Gehörs das notwendige Korrelat zum ‚freien Verkehr gerichtlicher Entscheidungen’ darstellt, gelten danach auch im Anwendungsbereich der EuGVO fort. Das gilt umso mehr im Hinblick auf die verfahrensrechtlichen Garantien des Art. 6 I EMRK, aus denen der EuGH den allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz herleitet, dass jedermann Anspruch auf einen fairen Prozess hat.

[12]Anders als etwa in Art. 34 Nr. 2 EuGVO hinsichtlich der Frage nach der Notwendigkeit der Ordnungsmäßigkeit der Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks hat auch der Verordnungsgeber der EuGVO hinsichtlich der hier interessierenden Problematik keine bewusste Korrektur zu der Rechtsprechung des EuGH vorgenommen.

[13]Eine Vorlage an den EuGH zur Beantwortung der Frage nach der Fortgeltung seiner zum EuGVÜ ergangenen Rechtsprechung unter der Geltung der EuGVO ist dem Senat im Übrigen nicht möglich, weil vorliegend die Rechtsbeschwerde zum BGH eröffnet ist und nach Art. 68 I EG nur dieser zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH befugt wäre (Schlosser aaO Einl Rz. 18).

Fundstellen

LS und Gründe

InVo, 2006, 212

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2005-157

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