Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden zur Auslegung von Art. 10 und Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (Brüssel IIa-VO) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Inwieweit ist der Regelungsmechanismus in Art. 10 und Art. 11 Brüssel IIb-VO beschränkt auf Verfahren im Verhältnis von EU-Mitgliedstaaten zueinander?
Konkret:
1. Gelangt Art. 10 Brüssel IIa-VO zur Anwendung mit der Folge einer fortdauernden Zuständigkeit der Gerichte im bisherigen Aufenthaltsstaat, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor dem Verbringen in einem EU-Mitgliedstaat (Deutschland) hatte und das Rückführungsverfahren nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen zwischen einem EU-Mitgliedstaat (Polen) und einem Drittstaat (Schweiz) geführt und in diesem Verfahren die Rückführung des Kindes abgelehnt wurde?
Soweit Frage 1 bejaht wird:
2. Welche Anforderungen sind im Rahmen des Art. 10 lit. b) i) Brüssel IIa-VO an die Darlegung der fortdauernden Zuständigkeit zu stellen?
3. Gelangen Art. 11 Abs. 6 bis 8 Brüssel IIa-VO auch bei Durchführung eines Rückführungsverfahrens nach dem HKÜ im Verhältnis zwischen einem Drittstaat und einem EU-Mitgliedstaat als Zufluchtsstaat zur Anwendung, soweit das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor dem Verbringen in einem anderen EU-Mitgliedstaat hatte? [LS der Redaktion]
Das Verfahren betrifft Fragen des Anwendungsbereichs von Art. 10 und 11 Brüssel IIa-VO. Die Kindeseltern schlossen 2013 in Stadt1 die Ehe. Der Vater besitzt die deutsche, die Mutter die polnische Staatsangehörigkeit. Die Kindeseltern lebten zunächst zusammen in Stadt1 (Deutschland). Am 29.06.2013 zog der Vater berufsbedingt in die Schweiz. Das gemeinsame Kind A, das die deutsche und inzwischen auch die polnische Staatsangehörigkeit besitzt, wurde 2014 in Stadt2 geboren und lebte von Januar 2015 bis Anfang April 2016 mit der Mutter in Stadt1. Der Vater besuchte Mutter und Kind regelmäßig in Deutschland, auch wurden gemeinsame Urlaube verbracht. Unter dem 11.5.2015 bewilligte das Amt für Migration das Gesuch des Vaters um Familiennachzug. Die Mutter erhielt eine befristete Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz, die bis zum 31.12.2019 gültig war. Am 9.4.2016 verzog die Mutter mit A nach Polen. Dabei meldete die Mutter die gesamte Familie in Stadt1unter Angabe der Anschrift des Vaters in der Schweiz ab. Im Sommer 2016 bewarb sich die Mutter auf Arbeitsstellen in der Schweiz. Seit November 2016 ist die Mutter in Polen bei der B tätig. Zunächst fanden Besuche des Vaters in Polen statt. Ab dem 17.4.2017 verweigerte die Mutter dem Vater den Umgang mit der gemeinsamen Tochter und meldete die Tochter ohne Zustimmung des Vaters in einem Kindergarten in Polen an. Ende Mai 2017 teilte die Mutter dem Vater mit, dass sie mit der Tochter in Polen bleibe.
Mit Antrag vom 7.7.2017 beantragte der Vater über die Schweizer Zentrale Behörde (Bundesamt für Justiz in Bern) die Rückführung des Kindes in die Schweiz. Dieser Antrag wurde mit Beschluss vom 8.12.2017 des Amtsgerichts Stadt3 Stadtteil1 zurückgewiesen. Die Mutter leitete mit Antrag vom 27.9.2017 in Polen ein Scheidungsverfahren ein. Im Oktober 2017 meldete die Mutter A bei der Stadtverwaltung Stadt2 in der Schweiz ab. Mit Beschluss vom 5.6.2018 vertraute das Bezirksgericht Stadt3 der Mutter vorläufig die elterliche Sorge für das gemeinsame Kind an und regelte die Unterhaltsverpflichtung des Vaters. Einen am 29.6.2018 beim deutschen Bundesamt für Justiz in Bonn eingereichten Antrag auf Rückführung des Kindes auf Grundlage des HKÜ verfolgte der Vater nicht weiter. Im hier gegenständlichen Verfahren beantragte der Vater die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge für das Kind, hilfsweise des Aufenthaltsbestimmungsrechts. Weiter beantragte der Vater, die Mutter zu verpflichten, das Kind ab Wirksamkeit des Beschlusses zum Vater in die Schweiz zurückzuführen. Mit Beschluss vom 3.6.2019 wies das Amtsgericht den Antrag des Vaters auf Übertragung der elterlichen Sorge zurück. Mit seiner Beschwerde verfolgt der Vater seinen erstinstanzlichen Antrag weiter.
[1]II.
[2]1. Internationale Zuständigkeit
[3]Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte folgt für vor dem 1.8.2022 eingeleitete Verfahren zur elterlichen Sorge grundsätzlich aus Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27.11.2003 (im Folgenden: Brüssel IIa-VO), soweit nicht vorrangige Regelungen nach Art. 9, 10 und 12 greifen (Art. 8 Abs. 2 Brüssel IIa-VO). Die Nachfolgeverordnung (EG) 2019/1111 vom 25. Juni 2019 (Brüssel IIb-VO) greift erst für nach dem 1. August 2022 eingeleitete Verfahren, 100 Abs. 1 Brüssel IIb-VO. Auf das vorliegende Verfahren ist weiterhin die Brüssel IIa-VO in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 anzuwenden, Art. 100 Abs. 2 Brüssel IIb-VO.
[4]Maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die internationale Zuständigkeit ist nach Art. 8 Abs. 1 Brüssel IIa-VO der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes (a.), soweit keine vorrangigen Regelungen, hier Art. 10 Brüssel IIa-VO, greifen (b.).
[5]a. Art. 8 Abs. 1 Brüssel IIa-VO
[6]Nach Art. 8 Abs. 1 Brüssel IIa-VO sind für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
[7]Der gewöhnliche Aufenthalt ist anhand aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls nach der familiären und sozialen Integration als Lebens- und Daseinsmittelpunkt des Kindes zu bestimmen, maßgeblich sind insoweit die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Staat (EuGH, Urteil vom 2.4.2009, C-523/07, Rz. 42 und 44; EuGH, Urteil vom 22.12.2010, C-497/10 PPU, Rz. 47; EuGH, Urteil vom 8.6.2017, C-111/17 PPU, Rz. 42).
[8]A lebt seit April 2015 mit ihrer Mutter in Polen und besuchte dort seit April/Mai 2017 die Kindertagesstätte.
[9]Zum Zeitpunkt der Antragstellung im Juli 2018 hatte A ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Polen begründet, womit die Zuständigkeit deutscher Gerichte nicht auf Art. 8 Abs. 1 Brüssel IIa-VO gestützt werden kann.
[10]b. Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung
[11]Art. 10 Brüssel IIa-VO enthält eine weitergehende Zuständigkeitsbestimmung für Fälle des widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens eines Kindes. In diesen Fällen bleibt es bei der internationalen Zuständigkeit des Staates des bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltes, selbst wenn das Kind in einem anderen Staat einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet, soweit nicht besondere Voraussetzungen vorliegen.
[12]Hierzu müsste zunächst der Anwendungsbereich von Art. 10 Brüssel IIa-VO im vorliegenden Verfahren eröffnet sein.
[13]Nach dem Wortlaut von Art. 10 Brüssel IIa-VO („Mitgliedstaat“) ist die Anwendung der Norm auf das Verhältnis der an die Brüssel IIa-VO gebundenen Mitgliedstaaten zueinander beschränkt. Der EuGH hat hierzu klargestellt, der Umstand, dass Art. 10 Brüssel IIa-VO den Ausdruck „Mitgliedstaat“ und nicht die Begriffe „Staat“ oder „Drittstaat“ verwendet und die Zuweisung der Zuständigkeit von einem gegenwärtigen oder früheren gewöhnlichen Aufenthalt „in einem Mitgliedstaat“ abhängig macht, ohne sich auf den Fall eines im Hoheitsgebiet eines Drittstaats erlangten Aufenthalts zu beziehen, lasse darauf schließen, dass dieser Artikel nur die Zuständigkeit bei Kindesentführungen innerhalb der Mitgliedstaaten regelt (EuGH Urt. v. 24.3.2021, C-603/20 PPU, Rn. 38-40).
[14]Nach der Auffassung des Vaters ist diese Voraussetzung erfüllt, da das vorliegende Verfahren im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen und damit zwei an die Brüssel IIa-VO gebundenen Mitgliedstaaten der EU geführt wird. A lebte mit der Mutter in Stadt1 und hatte damit ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland.
[15]Der Senat folgt dieser Auffassung nicht, sondern sieht die Anwendung von Art. 10 und Art. 11 Brüssel IIa-VO im Kontext mit der Durchführung eines Rückführungsverfahrens nach dem HKÜ. Art. 11 Brüssel IIa-VO enthält zusätzliche Verfahrensregelungen, die in Rückführungsverfahren nach dem HKÜ zur Anwendung gelangen, in denen sowohl der Herkunftsstaat als auch der Zufluchtsstaat Mitgliedstaaten der EU bzw. an die Brüssel IIa-VO gebunden sind (vgl. Althammer/Schäuble, Brüssel IIa - Rom III, 2014, Art. 11 Brüssel IIa-VO Rn. 3). Die in Art. 10 und Art. 11 Brüssel IIa-VO enthaltenen Regelungen stärken einerseits den Rückführungsmechanismus des HKÜ, indem die Anwendung der Ausnahmetatbestände eingeschränkt und die Vollstreckung der Rückführungsanordnung privilegiert werden, im Gegenzug bestehen jedoch besondere Beschleunigungs- und Anhörungsvorschriften sowie Schutz- und Informationspflichten gegenüber den Beteiligten.
[16]Der EuGH hat mit Urteil vom 24.3.2021, C-603/20 PPU, zur Auslegung des Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 (hier: Aufenthaltsbestimmung bei Kindesentführung) ausgeführt, dass bei Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung verfolgt werden (EuGH, Urteil vom 24.3.2021, C-603/20 PPU, Rn. 37). Danach ergibt sich zur Auslegung von Art. 10 Brüssel IIa-VO aus dem Wortlaut der Vorschrift sowie aus der Auslegung des von der Europäischen Kommission veröffentlichten Praxisleitfadens für die Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003 eindeutig, dass die Norm nur Zuständigkeitskonflikte zwischen Mitgliedstaaten und nicht zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat umfasst (EuGH Urteil vom 24.3.2021, C-603/20 PPU, Rn. 29). Der EuGH hob zugleich hervor, dass besondere Zuständigkeitsregeln eng auszulegen sind und daher keine Auslegung erlauben, die über die ausdrücklich in der betreffenden Verordnung vorgesehenen Fälle hinausgeht, bzw. dazu führt, dass nur ein Teil ihres Wortlauts für eine autonome Anwendung herangezogen wird (EuGH, Urteil vom 24.3.2021 - C-603/20 PPU, Rn. 47, 48).
[17]Entsprechend sind nach dem Verständnis des Senats die Regelungen in Art. 10 und Art. 11 Brüssel IIa-VO nicht isoliert voneinander zu betrachten.
[18]In dem auf Antrag des Vaters vom 7.7.2017 über das Bundesamt für Justiz in Bern eingeleiteten Rückführungsverfahren, das auf die Rückführung des Kindes in die Schweiz gerichtet war, gelangten die sich aus Art. 11 Brüssel IIa-VO ergebenden Anforderungen für die Durchführung von HKÜ-Verfahren nicht zur Anwendung, da die Schweiz nicht an die Brüssel IIa-VO gebunden ist. Entsprechend hatte das Gericht in Polen nach Ablehnung des Rückführungsantrags auch keine Veranlassung, nach Art. 11 Abs. 6 und 7 Brüssel IIa-VO vorzugehen und Gerichte bzw. die Zentrale Behörde in Deutschland über die ablehnende Entscheidung zu informieren.
[19]Der zweite Rückführungsantrag, den der Vater kurz vor Einleitung des vorliegenden Verfahrens beim deutschen Bundesamt für Justiz in Bonn einreichte, kann die fortdauernde Zuständigkeit nach Art. 10 Brüssel IIa-VO nicht begründen, da dieses Verfahren nicht betrieben wird. Maßgeblich ist insoweit der Eingang eines Antrags bei Gericht. Ein weiteres Rückführungsverfahren in Polen wurde nach Angaben des Vaters nicht eingeleitet.
[20]Im Übrigen erscheint die Statthaftigkeit eines zweiten HKÜ-Antrags grundsätzlich zweifelhaft, da die bestandskräftige Entscheidung des Berufungsgerichts in Polen der Einleitung eines weiteren HKÜ-Verfahrens zum selben Gegenstand entgegenstehen dürfte. Die Entscheidungen der polnischen Gerichte enthalten auch Ausführungen zur Frage des widerrechtlichen Zurückhaltens des Kindes.
[21]2. Anwendung von Art. 10 Brüssel IIa-VO
[22]Sofern Art. 10 Brüssel IIa-VO auch in der hier vorliegenden Konstellation grundsätzlich zur Anwendung gelangt, tritt ein Zuständigkeitswechsel (mangels Zustimmung beider Sorgeberechtigten, lit. a)) erst ein, wenn das Kind einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt hat, sich seit mindestens einem Jahr im neuen Aufenthaltsstaat aufhält, sich in die neue Umgebung eingelebt hat und eine der unter lit. b) i)- iv) genannten Fallgruppen erfüllt ist. Vorliegend steht lit. i) in Frage, wonach die fortdauernde Zuständigkeit entfällt, wenn innerhalb eines Jahres, nachdem der Sorgeberechtigte den Aufenthaltsort des Kindes kannte oder hätte kennen müssen, kein Antrag auf Rückgabe des Kindes bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gestellt wurde, in den das Kind verbracht wurde oder in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird (Art. 10 b) i) Brüssel IIa-VO).
[23]Der Vater musste demnach den Rückführungsantrag innerhalb eines Jahres nach Kenntnis bzw. Eintritt der Widerrechtlichkeit stellen, um die internationale Zuständigkeit der hiesigen Gerichte zu wahren.
[24]Der Vater macht geltend, er habe die Zustimmung zu einem befristeten Aufenthalt der Mutter mit A in Polen erteilt. Nach Ablauf dieser Frist sei die Mutter entgegen der vom Vater vorgetragenen Vereinbarung nicht mit A in die Schweiz gezogen.
[25]Der Vater trägt hierzu vor, das Kind werde spätestens seit dem 24.5.2017 (Besuch der Kita) widerrechtlich in Polen zurückgehalten. Weiter trägt der Vater vor, die Eltern hätten vereinbart, dass der Besuch einer Kindertagesstätte ab November 2017 in der Schweiz erfolgen sollte.
[26]Der Sorgerechtsantrag des Vaters ging am 13.7.2018 beim Amtsgericht ein. Die Jahresfrist des Art. 10 b) i) Brüssel IIa-VO wäre nur gewahrt, wenn auf den späteren Zeitpunkt, d.h. den Eintritt in die Kita abzustellen wäre. Mit dem Vortrag im Rückführungsverfahren (Widerrechtlichkeit mit Anmeldung Kita ab Mai 2017) wäre der Antrag nicht innerhalb der Jahresfrist des Art. 10 b) i) Brüssel IIa-VO eingegangen.
[27]Hier stellt sich die Frage, ob der Vater durch das in Polen geführte HKÜ-Verfahren mit weiterem Vortrag präkludiert ist oder ob im Rahmen von Art. 10 Brüssel IIa-VO auch auf spätere Einsatzzeitpunkte abgestellt werden kann. Damit bestünde die Möglichkeit, nach Abschluss des Rückführungsverfahrens den Einsatzzeitpunkt für den Beginn der Jahresfrist hinauszuzögern, was letztlich nicht der Intention entspricht, im Interesse des Kindeswohls eine zeitnahe Klärung des Sorgerechts herbeizuführen.
[28]Weiterhin ist zwischen den Eltern die Frage einer Befristung des Aufenthaltes von Mutter und Kind in Polen streitig. Die Mutter bestreitet, dass eine solche Befristung vereinbart wurde.
[29]Zur Frage der Darlegungs- und Beweislast verweist der Vater auf die für den Nachweis der Zustimmung bzw. einer Vereinbarung in HKÜ-Verfahren geltenden Grundsätze, wonach der Elternteil, der sich der Rückführung widersetzt, nachweisen muss, dass der Antragsteller dem Verbringen zugestimmt bzw. dieses (nachträglich) genehmigt hat (vgl. Art. 13 Abs. 1 lit a HKÜ).
[30]Nach der Auffassung des Senats sind die in HKÜ-Verfahren geltenden besonderen Beweislastregeln auf das vorliegende Verfahren nicht übertragbar. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist nicht die Rückführung des Kindes im Rahmen des HKÜ-Verfahrens, sondern ein Antrag auf Übertragung der elterlichen Sorge, in dem die für Sorgerechtsverfahren allgemein geltenden verfahrensrechtlichen Grundsätze greifen. Die Voraussetzungen des Art. 10 Brüssel IIa-VO sind von den Gerichten im vormaligen Aufenthaltsstaat eigenständig zu prüfen (EuGH, Urteil vom 22.12.2010, C-497/10 PPU, Rn. 62 ff.). Es besteht keine Bindung an die Entscheidung über den Rückgabeantrag nach HKÜ im neuen Aufenthaltsstaat. Insoweit greift der Amtsermittlungsgrundsatz des § 26 FamFG, der auch umfasst, dass die internationale Zuständigkeit von Amts wegen zu prüfen ist (BGH FamRZ 2010, 720 (IPRspr 2010-240)). Dabei gilt in Antragsverfahren wie dem vorliegenden Antrag auf Übertragung der elterlichen Sorge nach § 1671 BGB, dass die Beteiligten für die für sie günstigen Tatsachen eine gewisse Darlegungslast tragen. Widersprüche im Vortrag des Vaters sind daher durch das Gericht auch entsprechend zu würdigen.
[31]3. Anwendung von Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO
[32]Die in Art. 11 Abs. 6 bis 8 Brüssel IIa-VO enthaltenen Regelungen forcieren im Fall der Ablehnung der Rückführung des Kindes im HKÜ-Verfahren auf Grundlage von Art. 13 HKÜ die Einleitung eines Sorgerechtsverfahrens im früheren Aufenthaltsstaat. Insbesondere unterliegen Entscheidungen über die elterliche Sorge, die im Anschluss an die Ablehnung der Rückführung des Kindes im HKÜ-Verfahren im Anwendungsbereich von Art. 11 Brüssel IIa-VO ergehen und die Herausgabe (Rückgabe) des Kindes umfassen, nach Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO, Art. 40 Abs. 1 b) i.V.m. Art. 42 Brüssel IIa-VO einer privilegierten Vollstreckung.
[33]Der Vater vertritt die Auffassung, eine mit der Anordnung der Rückgabe des Kindes verbundene Entscheidung des Senats über die elterliche Sorge unterfalle Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO und damit den Regelungen über die privilegierte Vollstreckung.
[34]Nach Auffassung des Senats setzt die Anwendung von Art. 10 Abs. 6 bis 8 Brüssel IIa-VO hingegen zwingend die Durchführung eines HKÜ-Verfahrens im Verhältnis zweier an die Brüssel IIa-VO gebundener Mitgliedstaaten voraus, womit Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO vorliegend nicht zur Anwendung gelangt. Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO dient dazu, Sorgerechtsentscheidungen, die im Anschluss an den besonderen Anforderungen in Art. 11 Abs. 2 bis 5 Brüssel IIa-VO unterliegenden HKÜ-Verfahren ergehen, vereinfacht zur Durchsetzung zu verhelfen. Wie bereits ausgeführt, unterlag das Rückführungsverfahren im Verhältnis zwischen der Schweiz und Polen nicht dem Anwendungsbereich der Brüssel IIa-VO. Maßgeblich hierfür ist nicht der Wohnsitz des Vaters, sondern die Frage der wechselseitigen Bindung und Verpflichtung der Staaten durch die Brüssel IIa-VO.
[35]Ergänzungsbeschluss vom 3. Februar 2023
[36]In der Familiensache ... wird in Ergänzung des Vorlagebeschlusses vom 16.12.2023 (richtigerweise: 16.01.2023) klargestellt, dass L seit April 2016 (nicht 2015) mit ihrer Mutter in Polen lebt, wie sich aus der Darstellung des Sachverhalts ergibt.
[37]Soweit die Verfahrensbevollmächtigte des Vaters mit Schriftsatz vom 23.01.2023 eine Ergänzung des Beschlusses hinsichtlich der Staatsangehörigkeiten der Kindeseltern (portugiesische und deutsche Staatsangehörigkeit des Vaters sowie polnische und deutsche Staatsangehörigkeit der Mutter) und eine Berichtigung bezüglich des Zeitpunkts des Beginns des Besuchs der Kindertagesstätte auf September 2017 beantragt, kann der Senat diesem Antrag nach Übersendung der Akten an den EuGH mangels Überprüfungsmöglichkeit nicht entsprechen.