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Verfahrensgang

AG Hamm, Beschl. vom 23.04.2020 – 32 F 14/20, IPRspr 2020-224

Rechtsgebiete

Kindschaftsrecht → Kindesentführung
Allgemeine Lehren → Gewöhnlicher Aufenthalt

Leitsatz

Die Voraussetzungen des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des HKÜ sind durch autonome Auslegung des Haager Übereinkommens zu ermitteln.

Der gewöhnliche Aufenthalt im Sinne des HKÜ ist jedenfalls durch eine gewisse Dauer und Regelmäßigkeit des Aufenthaltes und das Vorhandensein solcher Beziehungen zur Umwelt gekennzeichnet, die die Annahme einer sozialen Integration der Person an ihrem Aufenthaltsort rechtfertigen

Art. 13 HKÜ stellt eine Ausnahmevorschrift dar, die grundsätzlich der Analogie nicht zugänglich ist. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

FamFG §§ 88 ff.
GVGA 2012 § 213a
HKÜ Art. 3; HKÜ Art. 13
IntFamRVG § 12; IntFamRVG § 40; IntFamRVG § 44

Sachverhalt

Die beteiligten Kindeseltern sind Eltern des 2009 in Armenien geborenen Kindes Ani E. Die Eltern und das Kind sind armenische Staatsbürger. Seit ihrer Geburt lebte Ani dauerhaft in Armenien. Die Kindeseltern waren verheiratet, sind inzwischen geschieden und lebten zuletzt auch räumlich getrennt voneinander in Armenien. Die Kindesmutter entschied sich im Folgenden, nach Deutschland zwecks eines Besuches zu verreisen und nahm das Kind Ani hierbei mit. Unstreitig war bei der Ausreise aus Armenien am 21.08.2019 lediglich ein Aufenthalt in Deutschland für drei Wochen geplant. Der Antragsteller erteilte seine schriftliche Zustimmung zu einem Aufenthalt bis zum 15.09.2019. Zum Zeitpunkt der Ausreise aus Armenien war die Antragsgegnerin bereits schwanger. Der Kindesmutter wurde sodann ärztlicherseits mit Attest vom 27.09.2019 von einer Flugreise von mehr als 3 Stunden abgeraten. Zwischen dem 09.02.2020 und dem 13.02.2020 befand sich die Antragsgegnerin in Gelsenkirchen im Krankenhaus, wo sie ein Kind zur Welt brachte.

Mit am 05.02.2020 bei Gericht eingegangenem Antrag verlangt der Kindesvater nunmehr die Rückführung des Kindes aus Deutschland nach Armenien. Ein zwischenzeitlich durch die Beteiligten geschlossener Vergleich mit der Verpflichtung der Kindesmutter, bis zum 05.04.2020 für die Rückführung des Kindes zu sorgen wurde seitens des Antragstellers widerrufen, da sich Ani sich mit der Kindesmutter weiterhin in Deutschland aufhält. Der Antragsteller beantragt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, das Kind an ihn zum Zwecke der sofortigen Rückführung nach Armenien herauszugeben.



Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II.

[2]Der Rückführungsantrag ist zulässig, insbesondere ist das angerufene Gericht örtlich zuständig gemäß § 12 Abs. 1 des Gesetzes zum Internationalen Familienrecht (IntFamRVG).

[3]Der Rückführungsantrag ist auch begründet.

[4]1.

[5]Die Voraussetzungen einer Rückführung richten sich nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25.10.1980 (im Folgenden „HKÜ“ genannt).

[6]2.

[7]Das HKÜ gilt zwischen Armenien und Deutschland seit dem 01.10.2009.

[8]3.

[9]Das Übereinkommen findet Anwendung, da Ani das 16. Lebensjahr nicht vollendet hat. Die Jahresfrist seit dem Zurückhalten ist nicht verstrichen, da Ani erst im August 2019 aus Armenien ausgereist ist und der Kindesvater bereits am 05.02.2020 den hiesigen Antrag eingereicht hat.

[10]4.

[11]Die Kindesmutter hat mit dem Zurückhalten des Kindes widerrechtlich gehandelt, da ihr die Entscheidung über einen Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltes des Kindes nach Deutschland nicht zustand. Das Zurückhalten des Kindes in Deutschland ist widerrechtlich im Sinne des Artikels 3 HKÜ. Die elterliche Sorge obliegt nach armenischem Recht beiden Kindeseltern gemeinsam. Auch die Kindesmutter geht offensichtlich vom gemeinsamen Sorgerecht beider Kindeseltern aus, anderenfalls wäre die seitens der Kindesmutter vor der Abreise aus Armenien verlangte Zustimmungserklärung des Kindesvaters unnötig gewesen. Eine abweichende Sorgerechtsentscheidung liegt nicht vor.

[12]An der Widerrechtlichkeit des Zurückhaltens ändert es auch nichts, dass die Kindesmutter Ani nach Ankunft in Deutschland gefragt haben will, ob diese mit dem weiteren/längeren Aufenthalt in Deutschland einverstanden ist.

[13]Ani ist nicht Inhaberin des Sorgerechts, kann demgemäß auch nicht über die Rechtmäßigkeit bzw. Widerrechtlichkeit eines Auslandsaufenthalts entscheiden. Auch ist in Anbetracht des Alters und der Reife des Kindes nicht davon auszugehen, dass Ani eine wohlabgewogene Entscheidung über ihren dauerhaften Aufenthalt treffen könnte.

[14]5.

[15]Das Kind hatte vor seiner Verbringung unstreitig seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Armenien. Dieser gewöhnliche Aufenthalt in Armenien besteht weiterhin.

[16]Die Voraussetzungen des gewöhnlichen Aufenthalts i. S. d. HKÜ sind durch autonome Auslegung des Haager Übereinkommens zu ermitteln. Der gewöhnliche Aufenthalt i. S. d. HKÜ ist jedenfalls durch eine gewisse Dauer und Regelmäßigkeit des Aufenthaltes und das Vorhandensein solcher Beziehungen zur Umwelt gekennzeichnet, die die Annahme einer sozialen Integration der Person an ihrem Aufenthaltsort rechtfertigen (OLG Frankfurt NJW-RR 2006, 938 (IPRspr 2006-81)). Für den Fall der Veränderung des so definierten Daseinsmittelpunkts, ist der zentrale Schutzzweck des Haager Übereinkommens, Kinder davor zu schützen, dass sie aus ihrem gewöhnlichen Lebensraum herausgerissen werden und Schäden durch eine rechtswidrige Entwurzelung erleiden, berührt. Einer der wesentlichen Ziele des HKÜ ist es, den sog, „Status quo ante“ umgehend wiederherzustellen, damit eine Sorgerechtsentscheidung von den Gerichten des Staates des gewöhnlichen Aufenthaltes getroffen werden kann (OLG Frankfurt, a.a.O.). Der gewöhnliche Aufenthalt ist durch das Gericht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände im Einzelfall festzustellen. [Ani] hat bis zu ihrer Ausreise aus Armenien am 21.08.2019, genau wie beide Kindeseltern, in Armenien gelebt, ist in Armenien zur Schule gegangen und hatte ihre sozialen und familiären Kontakte dort.

[17]6.

[18]Der Antragsteller hat sein Sorgerecht auch tatsächlich ausgeübt. Diesbezüglich hat die Kindesmutter schon nichts Abweichendes behauptet.

[19]7.

[20]Es liegen auch keine Gründe vor, von einer Rückführung des Kindes abzusehen.

[21]Die Voraussetzungen des Artikel 13 HKÜ, wonach unter bestimmten Voraussetzungen eine Rückführung nicht anzuordnen ist, liegen, auch unter Berücksichtigung der Maßstäbe, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Gerichten zur Prüfung auferlegt, nicht vor. Es handelt sich bei o. g. Normen um Ausnahmetatbestände. Werden die Befugnisse des Mitsorgeberechtigten durch eigenmächtiges Zurückhalten des Kindes im Ausland praktisch außer Kraft gesetzt und wird somit der persönliche Kontakt des Kindes nachhaltig erschwert oder gar ausgeschlossen, entspricht dies im Zweifel nicht dem Kindeswohl. Ob und unter welchen Voraussetzungen ein Aufenthaltsrecht im konkreten Einzelfall doch mit dem Kindeswohl vereinbar ist, ist letztlich der Entscheidung der nach, dem früheren gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes für das Sorgerecht zuständigen Gerichtes Vorbehalten (Bundesverfassungsgericht, FamRZ 1997, 1269 (IPRspr. 1997 Nr. 101b)). Über diese Frage haben dementsprechend die Gerichte des bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltsortes zu entscheiden. Um diese Sorgerechtsentscheidung sicherzustellen, ist nach Maßgabe der Bestimmungen des HKÜ grundsätzlich die schnellstmögliche Rückführung des widerrechtlich in einen anderen Vertragsstaat verbrachten oder dort zurückgehaltenen Kindes anzuordnen. Der Ausnahmetatbestand des Artikels 13 HKÜ ist deswegen restriktiv auszulegen (Bundesverfassungsgericht, FamRZ 1999, 885). Die Voraussetzungen des Artikels 13 HKÜ sind dabei in Abkehr des Amtsermittlungsgrundsatzes vom entführenden Elternteil schlüssig darzulegen und zu beweisen. Dies ist hier nicht geschehen.

[22]a)

[23]Es liegt zunächst kein Fall des Art. 13 I b) HKÜ vor, nach dem von der Rückführung abgesehen werden kann, wenn die Rückführung mit einem schwerwiegenden Schaden für das körperliche oder seelische Wohl des Kindes verbunden wäre.

[24]Die insoweit darlegungs- und beweisbelastete Antragsgegnerin hat keine hinreichenden Gründe dargetan, welche einer Rückführung des Kindes entgegenstehen könnten. Eine analoge Anwendung des Art. 13 I b HKÜ kommt, anders als die Antragsgegnerin der Auffassung ist, schon grundsätzlich nicht in Frage. Art. 13 I b HKÜ stellt eine Ausnahmevorschrift dar, die grundsätzlich der Analogie nicht zugänglich ist Aber auch für den Fall einer Anwendbarkeit von Art 13 I b HKÜ, sei es direkt oder analog, ist ein Absehen von der Rückführung nicht angezeigt.

[25]Die Kindesmutter hat sich darauf berufen, dass eine Rückführung des Kindes nach Armenien derzeit praktisch nicht möglich sei. Dies ist aber schon dem Grunde nach nicht gleichbedeutend mit dem für eine Versagung erforderlichen, durch die Rückführung eintretenden, gravierenden Schaden für das körperliche und seelische Wohl des Kindes. Dass eine Rückführung tatsächlich in jedem Falle praktisch unmöglich wäre, ist nicht dargetan. Die hierzu seitens der Antragsgegnerin vorgelegten Screenshots weisen eine praktische Unmöglichkeit schon nicht nach. Die Bezugnahme im wesentlich auf das Internetportal „... .de“ reicht nicht aus; auch hat sich die Kindesmutter lediglich bezüglich Flugverbindungen über die Ukraine bzw. Weißrussland geäußert. Die zitierten und in Ablichtung vorgelegten Reisehinweise des Auswärtigen Amts zeigen die Unmöglichkeit einer Transit-Flugverbindung über die genannten Länder zudem nicht. Auch ist nicht erkennbar, dass Ani in Armenien eine größere Gefahr für ihre Gesundheit droht als In Deutschland. Die Bundesrepublik gehört weltweit zu den Staaten mit den höchsten Erkrankungszahlen während der „Covid19-Pandemie“. Dass dies für Armenien in höherem Maße gelten würde, ist weder dargetan, noch ersichtlich.

[26]b)

[27]Dass der Antragsteller dem Zurückhalten zugestimmt oder das Zurückhalten des Kindes nachträglich genehmigt hätte, Art. 13 I a HKÜ, ist ebenso nicht ersichtlich.

[28]c)

[29]Ein Fall des Art. 13 Abs. 2 HKÜ liegt, unabhängig von der Frage, ob Paul in Anbetracht seines Alters überhaupt schon zu einer entscheidungserheblichen Einschätzung in der Lage wäre, ebenso nicht vor. Ani hat sich ihrer Rückkehr schon nicht in besonderem Maße widersetzt.

[30]d)

[31]Auch sonstige Gründe für das Absehen von der Rückführungsanordnung, insbesondere weil hierdurch das Kind in eine unzumutbare Lage kommen könnte, sind weder vorgetragen, noch sonst ersichtlich.

[32]Auch in Anbetracht der. Beschwerlichkeiten, die die Antragsgegnerin für eine Reiseoption (Reisedauer über insgesamt drei Tage) vorgetragen hat, folgt hieraus keine Unzumutbarkeit i. S. d. Vorschrift. Etwaige Beschwerlichkeiten für die Antragsgegnerin selbst haben bei der Prüfung im Übrigen außer Acht zu bleiben, da insoweit nur auf Ani abzustellen ist.

[33]Den tatsächlich nachvollziehbaren Schwierigkeiten hat das Gericht insoweit Genüge getan, als es die Rückreisefrist auf 4 Wochen nach Rechtskraft ausgedehnt hat

[34]8.

[35]Die Entscheidung wird erst mit Rechtskraft wirksam.

[36]Das erstinstanzliche Gericht hat keine Möglichkeit, die sofortige Wirksamkeit anzuordnen, § 40 Abs. 3 IntFamRVG.

[37]9.

[38]Die Vollstreckungsentscheidungen beruhen auf § 44 IntFamRVG, §§ 88 ff. FamFG.

[39]10.

[40]Das Gericht hat die Vollstreckung gemäß § 44 Abs. 3 IntFamRVG mit Rechtskraft von Amts wegen durchzuführen. Die Vollstreckung der Kindesherausgabe erfolgt nach § 213a Geschäftsanweisung für Gerichtsvollzieher

[41]IV. ...

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