Gemäß Art. 73 Abs. 1 lit. a EuErbVO können die Wirkungen des Zeugnisses von der Ausstellungsbehörde auf Verlangen einer Person, die ein berechtigtes Interesse nachweist, bis zur Änderung oder zum Widerruf des Zeugnisses nach Art. 71 EuErbVO ausgesetzt werden. Dabei hat die Behörde zwischen den Folgen, die eintreten, wenn die Wirkungen des möglicherweise falschen Zeugnisses bestehen bleiben, und denjenigen abzuwägen, die aufgrund der Wirkungsaussetzung drohen. Insofern kommt dem Grad der Wahrscheinlichkeit der Unrichtigkeit des Zeugnisses eine erhebliche Bedeutung zu. [LS der Redaktion]
Der am geborene B. (im Folgenden: Erblasser) ist am in Emmendingen verstorben. Der Erblasser hinterlässt seine polnische Ehefrau (Beteiligte Ziffer 3), mit der er am 16.11.2012 die Ehe geschlossen hatte, sowie zwei leibliche volljährige Kinder, die Beteiligten Ziffer 1 und Ziffer 2. Unter dem 07.04.2017 errichteten die Beteiligte Ziffer 3 und der Erblasser ein eigenhändiges gemeinschaftliches Testament, in dem sie sich wechselseitig zu Alleinerben des Erstversterbenden eingesetzt haben. Das Testament enthält zudem eine Pflichtteilsstrafklausel.
Mit notarieller Urkunde vom 26.08.2024 beantragte die Beteiligte Ziffer 3 beim Amtsgericht - Nachlassgericht - Emmendingen die Ausstellung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (im Folgenden: ENZ), weil zum Nachlass des Erblassers ein Konto in Frankreich zählte. Das ENZ wurde am 20.09.2024 antragsgemäß ausgestellt. Die Beteiligten Ziffer 1 und Ziffer 2 erhoben Einwendungen gegen die Erteilung des – zu diesem Zeitpunkt bereits erteilten – ENZ. Der Erblasser sei bei Abfassung des Testaments vom 07.04.2017 testierunfähig gewesen, was sich aus dem im Betreuungsverfahren XVII des Amtsgerichts eingeholten Gutachten des Sachverständigen Dr. D. vom 10.05.2019 ergebe. Nachdem die Beteiligten Ziffer 1 und Ziffer 2 über die bereits erfolgte Erteilung des ENZ informiert worden waren, beantragten sie dessen Einziehung, weil es unrichtig sei, sowie "im Wege einstweiliger Anordnung" der Beteiligten Ziffer 3 zu untersagen, das ENZ im Rechtsverkehr zu verwenden. Mit Beschluss vom 24.10.2024 setzte das Nachlassgericht die Wirkung des ENZ vom 27.09.2024 bis zu einer abschließenden Entscheidung über das als Antrag auf Widerruf des ENZ ausgelegte Rechtsmittel der Beteiligten Ziffer 1 und Ziffer 2 aus. Die Beschwerde der Beteiligten Ziffer 3 richtet sich gegen einen Beschluss des Nachlassgerichts, durch den die Wirkungen eines ENZ ausgesetzt worden sind.
[1]II.
[2]Die gemäß Art. 72 Abs. 1 Unterabsatz 2 EuErbVO, §§ 43 Abs. 1 Satz 1, 33 Nr. 1 IntErbRVG statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde gegen die Aussetzungsentscheidung des Nachlassgerichts hat in der Sache keinen Erfolg.
[3]Der Aussetzungsbeschluss des Nachlassgerichts ist nicht zu beanstanden; er entsprach insbesondere pflichtgemäßem Ermessen.
[4]1. Nach Artt. 62 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2, 63 EuErbVO dient das ENZ zur Verwendung durch Erben, Vermächtnisnehmer mit unmittelbarer Berechtigung am Nachlass und Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter in einem anderen Mitgliedstaat und entfaltet in allen Mitgliedstaaten die in Art. 69 EuErbVO aufgeführten Wirkungen, namentlich die in Art. 69 Abs. 2 EuErbVO näher beschriebene Beweis- und Vermutungswirkung, die in Art. 69 Abs. 3, Abs. 4 EuErbVO geregelte Gutglaubenswirkung und die in Art. 69 Abs. 5 EuErbVO beschriebene Legitimationswirkung. Gemäß Art. 67 Abs. 1 Satz 1 EuErbVO stellt die Ausstellungsbehörde – gemäß § 34 IntErbRVG das örtlich zuständige Nachlassgericht – das Zeugnis unverzüglich aus, wenn der zu bescheinigende Sachverhalt nach dem anwendbaren Recht feststeht. Umgekehrt darf die Ausstellungsbehörde das Zeugnis insbesondere dann nicht ausstellen, wenn Einwände gegen den zu bescheinigenden Sachverhalt anhängig sind oder das Zeugnis mit einer Entscheidung zum selben Sachverhalt nicht vereinbar wäre. Verfahrensrechtlich bestimmt Art. 66 Abs. 1 Satz 2 EuErbVO, dass die Ausstellungsbehörde von Amts wegen die für die Überprüfung erforderlichen Nachforschungen durchführt, soweit ihr eigenes Recht dies vorsieht oder zulässt, oder den Antragsteller auffordert, weitere Nachweise vorzulegen, die sie für erforderlich erachtet. In Deutschland gelten für das Verfahren zur Ausstellung des ENZ in Ermangelung einer abweichenden Sonderregelung gemäß §§ 33 Nr. 1, 35 Abs. 1 IntErbRVG die Vorschriften des FamFG, also insbesondere auch §§ 26, 29 FamFG, mithin die Grundsätze der Amtsermittlung sowie der Beweiserhebung (vgl. BegrRegE IntErbRVG, BR-Drs. 644/14, 71; BeckOGK/J. Schmidt, Stand: 01.12.2024, EuErbVO, Art. 66 Rn. 13). Im Falle feststehender inhaltlicher Unrichtigkeit eines bereits ausgestellten ENZ sieht § 71 Abs. 2 EuErbVO dessen Änderung oder Widerruf auf Verlangen einer Person, die ein berechtigtes Interesse nachweist, oder, soweit dies nach innerstaatlichem Recht möglich ist, auch von Amts wegen vor. Gemäß Art. 73 Abs. 1 lit. a EuErbVO können die Wirkungen des Zeugnisses von der Ausstellungsbehörde auf Verlangen einer Person, die ein berechtigtes Interesse nachweist, bis zur Änderung oder zum Widerruf des Zeugnisses nach Art. 71 EuErbVO ausgesetzt werden. Ratio dieser Norm ist es, der Ausstellungsbehörde zu ermöglichen, die Wirkung des ENZ auszusetzen, bis über Einwände entschieden ist, um die Verwendung eines potenziell unrichtigen Nachlasszeugnisses während der Schwebezeit zu verhindeRn. Voraussetzung ist ein Verlangen einer Person, die ein berechtigtes Interesse nachweist, nach Änderung oder Widerruf des ENZ. Zudem muss die Person auch die Aussetzung der Wirkungen verlangen, was freilich im Regelfall als im Verlangen nach Änderung oder Widerruf implizit beinhaltet sein wird. Dabei darf die Aussetzung nur solange andauern, bis über das Verlangen nach Änderung oder Widerruf entschieden ist (zum Ganzen BeckOGK/J. Schmidt, Stand: 01.12.2024, EuErbVO, Art. 73 Rn. 2 ff.). Die Ausstellungsbehörde hat ausweislich des klaren Wortlauts der Vorschrift eine Ermessensentscheidung über die Aussetzung der Wirkungen des Zeugnisses zu treffen. In Hinblick auf die Wirkungen der Aussetzung ist eine Abwägung zwischen den Folgen, die eintreten, wenn die Wirkungen des möglicherweise falschen Zeugnisses bestehen bleiben, und denjenigen vorzunehmen, die aufgrund der Wirkungsaussetzung drohen. Insofern kommt dem Grad der Wahrscheinlichkeit der Unrichtigkeit des Zeugnisses eine erhebliche Bedeutung zu (MüKoFamFG/Grziwotz, 3. Aufl. 2019, EUErbVO, Art. 73 Rn. 5).
[5]2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze entspricht es pflichtgemäßem Ermessen, die Wirkungen des ENZ bis zu einer endgültigen Entscheidung des Nachlassgerichts über den beantragten Widerruf auszusetzen.
[6]Entgegen der Auffassung der Beteiligten Ziffer 3 steht die von Amts wegen zu klärende Frage der Testierfähigkeit des Erblassers zum maßgeblichen Zeitpunkt der Testamentserrichtung derzeit keineswegs fest.
[7]Zutreffend hat das Nachlassgericht darauf hingewiesen, dass Zweifel an der Testierfähigkeit des Erblassers bestehen und deshalb vor der Entscheidung über den beantragten Widerruf des ENZ die Einholung eines Sachverständigengutachtens geboten ist. Nach dem im Betreuungsverfahren eingeholten Gutachten des Sachverständigen Dr. D litt der Erblasser zwar erst seit Oktober 2018 unter anhaltenden wahnhaften Störungen, infolge der beiden Schlaganfälle in den Jahren 2012 und 2013 hatte sich zuvor aber bereits ein Multiinfarktsyndrom mit rezidivierenden Depressionen und einer Multiinfarkt-Demenz entwickelt. Wie weit diese Krankheitsbilder bei der Errichtung des gemeinschaftlichen Testaments vom 07.04.2017 fortgeschritten waren und sich möglicherweise auf die Testierfähigkeit des Erblassers ausgewirkt haben, ist durch ein psychiatrisches Sachverständigengutachten zu klären. Ausreichenden Aufschluss hierüber geben weder die Stellungnahme der Allgemeinmedizinerin Dr. M vom 07.11.2024 noch der fachärztliche Arztbericht des Psychiaters und Neurologen Dr. D vom 18.10.2017. Soweit dieser die wenig spezifische Aussage "bewusstseinsklarer und allseits orientierter Patient" enthält, mag dies ebenso wie die Feststellung einer "organischen Wesensänderung" eine Anknüpfungstatsache für das einzuholende psychiatrische Sachverständigengutachten sein, ersetzen kann es ein solches indes nicht. Vor dem Hintergrund der Gefahren, die in Hinblick auf die weitreichenden Wirkungen des ENZ mit dessen Verwendung einhergehen, und der zugleich vollkommen offenen Frage der Testierfähigkeit des Erblassers bei Errichtung des gemeinschaftlichen Testaments entsprach es pflichtgemäßem Ermessen, dessen Wirkungen gemäß Art. 73 Abs. 1 lit. a EuErbVO bis zur Klärung dieser Frage auszusetzen.
[8]III. ...
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