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Verfahrensgang

LG Hechingen, Urt. vom 24.06.2024 – 4 O 230/22, IPRspr 2024-66

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Versicherungs-, Verbraucher-, Arbeitsgerichtsstand
Allgemeine Lehren → Ermittlung, Anwendung und Revisionsfähigkeit ausländischen Rechts
Außervertragliche Schuldverhältnisse → Unerlaubte Handlungen, Gefährdungshaftung

Leitsatz

Ein Geschädigter, der seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat, kann nach Art. 13 Abs. 2, 11 Abs. 1 lit. b EuGVVO vor dem Gericht seines Wohnsitzes eine Klage unmittelbar gegen den Versicherer erheben, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist und der Versicherer seinen Sitz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates hat. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

EuGVVO 1215/2012 Art. 11; EuGVVO 1215/2012 Art. 13
PflichtVersG 2003 (Polen) Art. 36
Rom II-VO 864/2007 Art. 4
ZGB 1964 (Polen) Art. 189; ZGB 1964 (Polen) Art. 322; ZGB 1964 (Polen) Art. 361 § 1

Sachverhalt

Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall, der sich am 20.6.2022 in Polen ereignet hat.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]I. l. Die Klage ist zulässig.

[2]a) Das LG Hechingen ist örtlich, sachlich und international nach Art. 13 Abs. 2, Art. 11 Abs. 1 lit.b Brüssel Ia-Verordnung zuständig.

[3]Ein Geschädigter, der seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat, kann nach Art. 13 Abs. 2, Art. 11 Abs. 1 lit.b Brüssel Ia-Verordnung vor dem Gericht seines Wohnsitzes eine Klage unmittelbar gegen den Versicherer erheben, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist und der Versicherer seinen Sitz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates hat. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

[4]b) Der Feststellungsantrag ist ebenfalls zulässig. Der Kl. kann seinen Anspruch über den bereits bezifferten Schaden hinaus im Wege der Feststellungsklage geltend machen, Art. 189 des polnischen Zivilgesetzbuches (ZGB). Das Fahrzeug des Kl. ist noch nicht repariert. Es steht derzeit nicht fest, ob weitere Kosten, insbesondere Mietwagenkosten für die Reparaturdauer, anfallen.

[5]2. Die Klage ist auch begründet.

[6]Der Kl. hat einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von insgesamt ... € sowie einen Anspruch auf Zahlung vorgerichtlicher Anwaltskosten in Höhe von ... €.

[7]Auf das gegenständliche Schadensereignis ist nach Art. 4 Abs. 1 Rom Il-VO polnisches Recht anzuwenden, weil der Verkehrsunfall sich in Polen ereignet hat und auf Seiten der Bekl. das Fahrzeug eines polnischen Halters beteiligt war.

[8]Die volle Haftung der Bekl. dem Grunde nach steht zwischen den Parteien außer Streit.

[9]Der klägerische Anspruch gegen die Bekl. als Versicherer folgt aus Art. 36 Abs. 1 des Gesetzes über die Haftpflichtversicherung, den Versicherungsgarantiefond und dem Polnischen Bureau für die Verkehrsversicherer vom 22.5.2003 i. V. m. Art. 361 § 1 ZGB. Nach Art. 361 § 1 ZGB sind alle eingetretenen Personen- und Sachschäden zu ersetzen; sogar Vermögensschäden sind ersatzfähig (NK-GVR, V. Europäisches Verkehrsrecht Rdnr. 424, beck-online).

[10]Die vom Kl. geltend gemachten Schadenspositionen sind nach polnischem Recht ersatzfähig. Im Einzelnen:  

[11]a) fiktive Reparaturkosten

[12]Dem Kl. steht ein Anspruch auf Ersatz der fiktiven Reparaturkosten des beschädigten Fahrzeugs in Höhe von ... € zu.

[13]In der polnischen obergerichtlichen Rspr. hat sich die Meinung verfestigt, dass Kosten für die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands eines geschädigten Fahrzeugs unabhängig davon ersatzfähig sind, ob eine Reparatur durchgeführt wurde und durchgeführt wird. Erfasst sind hierbei auch die auf die Reparaturkosten entfallende Mehrwertsteuer, sofern der Geschädigte nicht vorsteuerabzugsberechtigt ist (so auch OLG Düsseldorf, Urteil vom 3.8.2021, DAR 2021, 690 (IPRspr 2021-5)). Der Kl. ist vorliegend unstreitig nicht vorsteuerabzugsberechtigt, weshalb auch die Mehrwertsteuer zuzusprechen ist.

[14]Eine fiktive Kostenabrechnung ist nach polnischem Recht nur ausgeschlossen, wenn eine Reparatur nicht möglich ist oder wirtschaftlich sinnlos wäre. In diesem Fall wäre der Vermögensunterschied zu berücksichtigen, der durch den Unfall eingetreten ist, also der Wertverlust, der dem Wert der zerstörten Sache entspricht. Vorliegend liegen die Reparaturkosten (brutto) bei ... € und damit unter dem Wiederbeschaffungswert von ... € bis ... €, der von der Bekl. ermittelt wurde, sodass bereits hiernach eine Reparatur schon nicht sinnlos wäre. lm Übrigen kommt es auf den durch die Bekl. betonten Umstand, dass die geltend gemachten fiktiven Reparaturkosten den Wiederbeschaffungsaufwand übersteigen, nach polnischem Recht nicht an. Eine dem deutschen Recht entsprechende Beschränkung des Ersatzanspruchs auf den Wiederbeschaffungsaufwand in dem Fall, wenn das Fahrzeug nicht mindestens sechs Monate lang im verkehrssicheren Zustand weiter genutzt wird, besteht nach polnischem Recht nicht (OLG Düsseldorf, Urteil vom 3.8.2021, DAR 2021, 690 (IPRspr 2021-5)).

[15]b) allgemeine Unkostenpauschale

[16]Nach Art. 322 ZGB kann das Gericht nach eigenem Ermessen, unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles, eine Pauschale zusprechen, wenn ein Nachweis über die Höhe des Schadens unmöglich, allzu erschwert bzw. nicht zweckmäßig ist ...

[17]Das Gericht erachtet hierfür eine Pauschale von ... € für angemessen. Einwände gegen die Höhe der Unkostenpauschale hat die Bekl. im Übrigen nicht erhoben.

[18]c) Pauschale für die Erstellung der Reparaturkalkulation

[19]Die vom Kl. begehrte Pauschale für die Erstellung der Reparaturkosten in Höbe von ... € sind ebenfalls als Teil des kausalen Schadens nach Art. 322 ZGB ersatzfähig. Zur Bezifferung des Fahrzeugschadens gegenüber dem Unfallgegner ist es unerlässlich ein Gutachten / einen Kostenvoranschlag einzuholen. Die Einholung einer Reparaturkalkulation ist zudem zielführend ...

[20]d) Sachverständigenkosten für die Ermittlung des Wiederbeschaffungswertes

[21]Der Kl. hat zudem einen Anspruch auf Ersatz der für die Ermittlung des Wiederbeschaffungswertes aufgewandten Kosten in Höhe von ... € aus Art. 361 § 1 ZGB. Insoweit sind die Kosten eines privaten Sachverständigengutachtens ersatzfähig, wenn die Ausfertigung von solchen Gutachten für die effiziente Geltendmachung der Rechte erforderlich ist.

[22]Vorliegend musste der Kl. mangels eigenem Fachwissen zur Ermittlung des Wiederbeschaffungswertes ein Gutachten einholen, um seinen Anspruch der Höhe nach beziffern zu können ...

[23]e) ... f) außergerichtliche Rechtsanwaltskosten

[24]Nach Art. 361 § 1 ZGB sind Anwaltskosten zur effizienten Verwirklichung eines Schadensersatzanspruches gerechtfertigt, wenn die Beauftragung eines Anwalts in kausalem Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall steht und die hierdurch verursachten Kosten zielführend, unentbehrlich, vernünftig und ausreichend gerechtfertigt sind. Dies ist nach der obergerichtlichen polnischen Rspr. dann der Fall, wenn der Sachverhalt komplex ist, dem Geschädigten die fachliche Qualifikation fehlt, Verständigungsproblemen vorliegen und die gegnerische Versicherung eine Kooperationsbereitschaft vermissen lässt.

[25]Vorliegend beurteilen sich die Schadensersatzansprüche des Kl. aus dem Verkehrsunfall nach polnischem Recht. Der KL wäre trotz der unstreitigen Haftung der Bekl. ohne anwaltliche Unterstützung nicht in der Lage gewesen, den genauen Umfang seiner Ersatzansprüche, deren Ersatzfähigkeit im Übrigen von der Bek!. bestritten werden, zu ermitteln und gegenüber der Bekl. geltend zu machen. Die Bekl. hat sich während der außergerichtlichen Auseinandersetzung stets auf den Standpunkt bezogen, dass die Schadenspositionen nicht ersatzfähig sind, sie hat jegliche Kooperationsbereitschaft vermissen lassen.

[26]...

Fundstellen

LS und Gründe

DAR, 2024, 578

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2024-66

Lizenz

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