Ein laufendes Einspruchsverfahrens wird bei Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Einspruchsführers in der Republik Irland unterbrochen
Die Eröffnung eines ausländischen Insolvenzverfahrens ist gem. § 343 InsO anzuerkennen, soweit dies nicht zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Die Verletzung der Unterrichtungspflicht nach § 54 EuInsVO stellt keinen solchen Grundsatz dar.
Eine Restschuldbefreiung nach irischem Recht hat zur Folge, dass sämtlichen Verbindlichkeiten, insbesondere die Steuerschulden, des Insolvenzschuldners erlöschen. [LS der Redaktion]
Strittig ist, ob der Beklagte ruhende Einspruchsverfahren betreffend die Umsatzsteuer 2009 bis 2011, die Gewerbesteuer-Messbeträge 2009 bis 2011 und die Feststellung der vortragsfähigen Gewerbeverluste auf den 31. Dezember 2010 und den 31. Dezember 2011 fortsetzen und die Verfahren durch Erlass einer Einspruchsentscheidung beenden durfte, obwohl ein am 00.00.2022 in der Republik Irland über das Vermögen des Klägers eröffnetes Insolvenzverfahren zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung noch nicht beendet war.
[1]I. Die Klage ist zulässig.
[2]1. ... 2. ... a) ... II. ... 1. ... a) ... b) ... aa) Nach § 343 Abs. 1 Satz 1 InsO wird die Eröffnung eines ausländischen Insolvenzverfahrens anerkannt. Dies gilt nach § 343 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO nicht, soweit die Anerkennung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist, insbesondere soweit sie mit den Grundrechten unvereinbar ist. Diese Voraussetzungen lagen nach den für das Gericht feststellbaren Tatsachen im Streitfall nicht vor.
[3]Bei dem vom Kläger in der Republik Irland durchlaufenen Insolvenzverfahren handelt es sich um ein dort als „Bankruptcy“ bezeichnetes Insolvenzverfahren. Dabei handelt es sich um ein im Anhang A der VO (EU) 2015/848 aufgeführtes Insolvenzverfahren, auf das diese Verordnung nach Art. 1 Abs. 1 Satz 3 und Art. 2 Nr. 4 Anwendung findet. Nach Anhang B i. V. m. Art. 2 Nr. 5 VO (EU) 2015/848 ist es Aufgabe eines Verwalters, die im Insolvenzverfahren angemeldeten Forderungen zu prüfen und zuzulassen und die Gesamtinteressen der Gläubiger zu vertreten. Zu den danach als Verwalter anerkannten Personen gehören in der Republik Irland der Liquidator, der Official Assignee, der Trustee in bankruptcy, der Provisional Liquidator, der Examiner, der Personal Insolvency Practitioner und der Insolvency Service.
[4]Nach Art. 3 Abs. 1 Satz 1 VO (EU) 2015/848 sind für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen ist der Ort, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und der für Dritte feststellbar ist. Dieser Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen wird in der Republik Irland als „Centre of main interests“ (kurz: COMI) bezeichnet. Er ist dem Insolvenzgericht schlüssig durch entsprechende Nachweise darzulegen. Dazu gehören z. B. Nachweise zum Wohnsitz, zum Arbeitsplatz, zu einer Bankverbindung, zu einer Sozialversicherungsnummer, zu einer Telefonverbindung u. Ä. Es ist Aufgabe des Insolvenzverwalters, hier: des Personal Insolvency Practitioners, die Angaben des Schuldners über seinen Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen zu verifizieren und dazu gegenüber dem Gericht eine Einschätzung auszusprechen, wobei die Gerichte üblicherweise dessen Beurteilung folgen (vgl. https://www.anwalt.de/rechtstipps/privatinsolvenz-in-irland-das-licht-am-ende-des-tunnels-207386.html, S. 4).
[5]Das Insolvenzrecht für Privatpersonen in Irland wird durch das Konkursgesetz (Bankruptcy Act) von 1988 (in seiner aktuellen Fassung) und die Privatinsolvenzgesetze (Personal Insolvency Acts) von 2012 bis 2015 geregelt. Mit dem Privatinsolvenzgesetz wurden drei Verfahren zur Schuldenregulierung festgelegt und Änderungen im Konkursrecht eingeführt. Alle Privatinsolvenzverfahren einschließlich des Konkursverfahrens (Bankruptcy) werden in Irland vom Insolvency Service of Ireland (ISI) abgewickelt, einer unabhängigen Körperschaft, die 2013 eingerichtet wurde und unter der Federführung des Ministeriums für Justiz und Gleichstellung tätig ist.
[6]Für Privatinsolvenzverfahren, die nach den Bestimmungen der Privatinsolvenzgesetze durchgeführt werden, können die folgenden drei Regelungen angewandt werden:
[7]1. Entschuldungsmitteilung (Debt Relief Notice – DRN): Für Schulden bis 35.000 Euro im Falle von Personen, die praktisch keine Vermögenswerte besitzen und ein sehr niedriges Einkommen haben.
[8]2. Schuldenbereinigungsregelung (Debt Settlement Arrangement – DSA): Für die vereinbarte Bereinigung von ungesicherten Forderungen in unbeschränkter Höhe über einen Zeitraum bis zu fünf Jahren (unter bestimmten Umständen auf sechs Jahre verlängerbar).
[9]3. Privatinsolvenzregelung (Personal Insolvency Arrangement – PIA): Für die vereinbarte Bereinigung oder Umstrukturierung gesicherter Forderungen bis 3 Millionen Euro (oder mehr mit Zustimmung der Gläubiger) und ungesicherter Forderungen in unbeschränkter Höhe über einen Zeitraum bis zu sechs Jahren (unter bestimmten Umständen auf sieben Jahre verlängerbar).
[10]Der Konkurs (Bankruptcy) ist eine Option für Schuldner, die – wie der Kläger – aufgrund ihrer Umstände (höhere Schulden, keine Vereinbarung einer Bereinigung ungesicherter Forderungen, keine gesicherten Forderungen) die erforderlichen Kriterien für die drei genannten Insolvenzregelungen nicht erfüllen. Kann eine Privatperson nachweisen, dass sich ihre finanzielle Situation durch eine Insolvenzregelung nicht bereinigen lässt und kann sie ein diesbezügliches Schreiben eines Privatinsolvenzverwalters vorlegen, so kann sie beim High Court, dem Obersten Zivil- und Strafgericht der Republik Irland, die Konkurserklärung beantragen. Dazu muss die Person einen Konkurseröffnungsbeschluss (Order of Adjudication oder Bankruptcy Order) beantragen. Dieser Antrag, für den eine Erstgebühr von 200 Euro zu zahlen ist, muss bei der für seine Prüfung zuständigen Stelle des High Court, dem Examiner‘s Office, eingereicht werden. Der Antragsteller wird vom High Court gehört. Wenn der Konkurs erklärt wird, ist die betreffende Person gesetzlich verpflichtet, den Entscheidungen des vom High Court bestellten Konkursverwalters (Official Assignee in Bankruptcy) und seiner Dienststelle (der Konkursabteilung des ISI), die für die Verwaltung der Konkursmasse zuständig ist, Folge zu leisten. Sobald der Konkurs des Schuldners erklärt wurde, werden die ungesicherten Forderungen der Gläubiger vollständig abgeschrieben, während die Vermögenswerte des Schuldners vollständig in das Eigentum des gerichtlich bestellten Konkursverwalters übergehen.
[11]Die Konkurserklärung eines Konkursschuldners wird ein Jahr nach Ergehen des Konkurseröffnungsbeschlusses automatisch aufgehoben, es sei denn, es wurde auf Antrag des gerichtlich bestellten Konkursverwalters eine Konkursverlängerung (Bankruptcy Extension Order) wegen Nichteinhaltung der Schuldenregelung angeordnet.
[12]In Konkursverfahren wird das Profil einer Konkursmasse (alle Vermögenswerte und Verbindlichkeiten des Schuldners) in zwei Formblättern festgehalten, die der Konkursschuldner ausfüllen und dem Konkursprüfer (Bankruptcy Inspector) am Tag der Konkurseröffnung vorlegen muss: Die Mitteilung über geschäftliche Aktivitäten (Statement of Affairs) und die Mitteilung über personenbezogene Daten (Statement of Personal Information). Am Tag nach der Konkurseröffnung wird dies von der Konkursabteilung (Bankruptcy Division) des ISI an Finanzinstitutionen und staatliche Stellen gemeldet. Konkurseröffnungen werden auch auf der Website des ISI und im Iris Oifigiúil, einer amtlichen Veröffentlichung des irischen Staates, bekannt gemacht.
[13]Ist ein Schuldner seinen Verpflichtungen im Konkursverfahren nachgekommen, so wird der Konkurs nach einem Jahr automatisch aufgehoben. In Konkursverfahren können Gläubiger nach der Konkurseröffnung ihre bestehenden Forderungen nicht mehr vom Schuldner einfordern, sondern müssen sich direkt mit dem Konkursverwalter (Official Assignee) in Verbindung setzen. Sobald der Konkurs des Schuldners aufgehoben ist, d. h. meist nach einem Jahr, werden alle ungesicherten Forderungen erlassen (vgl. https://e-justice.europa.eu/447/DE/insolvencybankruptcy?IRELAND&member=1).
[14]bb) Das Gericht vermag nicht festzustellen, dass das vom Kläger in der Republik Irland durchlaufene Insolvenzverfahren diesen Vorgaben oder zwingenden Regelungen der VO (EU) 2015/848 nicht entsprochen hat.
[15](1) ... Der High Court hat aufgrund dieser Unterlagen nicht nur das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Klägers durch die Order of Adjudication vom 00.00.2022, in der ausdrücklich festgestellt wurde, dass der Kläger den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in Irland habe („that the centre of main interests of the said D. is situated in Ireland“), im Einklang mit Art. 3 Abs. 1 VO (EU) 2015/848 eröffnet, sondern – mangels Verstoßes des Klägers gegen die irischen Bestimmungen über das Verhalten eines Schuldners während der Wohlverhaltensphase – ihm nach einem Jahr mit Schreiben vom 00.00.2023 (Beiakte Bl. 12 f.) mit Wirkung vom 00 März 2023 Restschuldbefreiung erteilt.
[16]Es ist für das Gericht nicht erkennbar, dass durch diesen Verfahrensablauf ein Ergebnis eingetreten wäre, das mit wesentlichen Grundsätzen deutschen Rechts i. S. von § 343 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO offensichtlich unvereinbar ist.
[17](2) Ein Verstoß gegen § 343 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO lässt sich darüber hinaus auch nicht aus den vom Beklagten im Schriftsatz vom 7. September 2023 angeführten Gründen feststellen.
[18](a) Der Beklagte ist zu Unrecht der Ansicht, dass die Anerkennung des in der Republik Irland über das Vermögen des Klägers durchgeführten Insolvenzverfahrens zu einem Ergebnis führe, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar sei, weil er – der Beklagte – entgegen Art. 54 Abs. 1 VO (EU) 2015/848 weder vom irischen Insolvenzgericht noch von dem von diesem bestellten Verwalter über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens unterrichtet worden sei. Dabei geht das Gericht zugunsten des Beklagten davon aus, dass diese Unterrichtung tatsächlich unterblieben ist ...
[19]Art. 54 VO (EU) 2015/848 dient dazu, die zuvor in Art. 40 und Art. 42 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 geregelten Unterrichtungspflichten für das Insolvenzgericht oder den Verwalter weiter zu standardisieren. Durch die Standardisierung soll die Unterrichtung der ausländischen Gläubiger für den Verwalter oder das Insolvenzgericht vereinfacht werden. Art. 54 VO (EU) 2015/848 soll die Informationsdefizite ausländischer Gläubiger aus anderen Mitgliedstaaten ausgleichen, die in der Regel über die Insolvenzeröffnung schlechter informiert sind als inländische Gläubiger. Diese Informationsdefizite ergeben sich nicht nur aus Sprachbarrieren, sondern auch daraus, dass die Eröffnung ausländischer Insolvenzverfahren nur selten Gegenstand der inländischen Presseberichterstattung sind und auch in den inländischen Registern meist nicht veröffentlicht werden, auch wenn durch die Einführung und Vernetzung der Insolvenzregister mittlerweile deutlich größere Transparenz geschaffen wurde (Reinhart, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 4, 4. Aufl., Art. 54 Rn. 1).
[20]Zu den Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen Art. 54 VO (EU) 2015/848 enthält die Vorschrift keine Regelungen. Kann die Anmeldung nicht mehr nachgeholt werden und wird der Gläubiger daher bei der Verteilung nicht berücksichtigt, bleiben nur Schadensersatzansprüche gegen das verpflichtete Gericht und/oder den verpflichteten Verwalter. Ein entsprechender Schadensersatzanspruch richtet sich nach dem Recht des Verfahrensstaates, dessen Verwalter bzw. Gericht die Unterrichtungspflicht oblag. In der Regel wird dem Gläubiger jedoch ein überwiegendes Mitverschulden obliegen. War die Verfahrenseröffnung gemäß Art. 28 VO (EU) 2015/848 in dem Mitgliedstaat des Gläubigers bekannt gemacht worden, dürfte ein Schadensersatzanspruch gänzlich ausscheiden (so Reinhart, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 4, 4. Aufl., Art. 54 Rn. 22; vgl. ferner die Entscheidung des Supreme Court of Ireland vom 4. Dezember 2023 zu den Folgen eines nicht fristgemäß erbrachten Forderungsnachweises in einem nach dem Personal Insolvency Act 2012 als PIA geführten Insolvenzverfahren).
[21]Das Gericht folgt dieser Ansicht zumindest für den Streitfall. Die VO (EU) 2015/848 lässt nicht erkennen, dass ein Verstoß gegen Art. 54 einen so erheblichen Einfluss auf die ordnungsgemäße Durchführung des Insolvenzverfahrens haben könnte, dass es in einem anderen Mitgliedstaat nicht anzuerkennen wäre, weil es deshalb i. S. von Art. 33 VO (EU) 2015/848 bzw. § 343 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO dort offensichtlich gegen die öffentliche Ordnung verstößt. Dies gilt im Streitfall umso mehr, als der Beklagte die Eröffnung des Verfahrens über die Register des Iris Oifigiúil, des ISI und des Europäischen Justizportals feststellen konnte und der Kläger ihn durch den Schriftsatz vom 27. April 2022 im Verfahren
[22](b) ... 2. ... a) ... b) Die dem Kläger erteilte Restschuldbefreiung hat nach irischem Recht dazu geführt, dass seine sämtlichen Verbindlichkeiten und damit auch die Steuerschulden, wie sie sich aus den angefochtenen Einkommen- und Umsatzsteuerbescheiden für 2009 bis 2011 ergeben, erloschen sind. Gleiches gilt für die Gewerbesteuerbescheide für diese Jahre, für die die Gewerbesteuermessbescheide für 2009 bis 2011 und die Bescheide über die vortragsfähigen Gewerbeverluste auf den 31. Dezember 2010 und den 31. Dezember 2011 Grundlagenbescheide sind (vgl. §§ 184 Abs. 1, 171 Abs. 10 AO und § 35b Abs. 2 GewStG). Sie teilen wegen ihrer Eigenschaft als Grundlagenbescheide das Schicksal der Gewerbesteuerbescheide.
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