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Verfahrensgang

LG München I, Urt. vom 01.10.2020 – 20 O 2660/19
OLG München, Urt. vom 08.11.2021 – 17 U 6346/20
BGH, Beschl. vom 18.04.2023 – II ZR 184/21, IPRspr 2023-269

Rechtsgebiete

Insolvenz- und Anfechtungsrecht

Leitsatz

Die Begründung eines Verwaltungssitzes in England und die dortige Eröffnung des Insolvenzverfahrens wirken sich auf einen bereits entstandenen Anspruch nicht mehr aus.

Ein Anspruch, der unter Art. 3 Abs. 1 EuInsVO aF fällt, steht nicht in engem Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren, wenn er nach Abtretung vom Zessionar verfolgt wird

Bei der Prüfung, ob eine offensichtlich engere Verbindung im Sinne des Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO besteht, verfügt das Gericht über einen Beurteilungsspielraum. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

BGB § 826
EuInsVO 1346/2000 Art. 3; EuInsVO 1346/2000 Art. 4
Rom I-VO 593/2008 Art. 4
Rom II-VO 864/2007 Art. 4

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]

[2]Der geltend gemachte Anspruch unterliegt nicht dem Insolvenzrecht des Eröffnungsstaates. Fragen zur Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der hier anzuwendenden Verordnung(EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. L 160 S. 1, ber. 2014 L 350 S. 15, im Folgenden: EuInsVO aF) stellen sich insoweit nicht. Die Begründung eines Verwaltungssitzes in England und die dortige Eröffnung des Insolvenzverfahrens wirken sich auf einen bereits entstandenen Anspruch nicht mehr aus (vgl. EuGH, Urteil vom 14. Oktober 2008 - C-​353/06, ECLI:EU:C:2008:559 Rn. 21 ff. - Grunkin und Paul; BGH, Beschluss vom 16. Oktober 1974 - IV ZB 12/74 (IPRspr. 1974 Nr. 60), BGHZ 63, 107, 111 f.; K. Schmidt/Brinkmann, InsO, 20. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 18; Staudinger/Looschelders, BGB, Neubearb. 2019, Einleitung IPR Rn. 1061, 1064; Keller, NZI 2021, 110, 113 f.; Weller, Festschrift Ganter, 2010, S. 439, 450 f.; Weller/Thomale/ Zwirlein, ZEuP 2018, 892, 899 f.). Der Anspruch wegen existenzvernichtenden Eingriffs gemäß § 826 BGB ist entstanden, bevor die P. GmbH einen Verwaltungssitz in England begründet hat, weil dieser Anspruch weder einen Insolvenzantrag noch die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens voraussetzt (BGH, Urteil vom 16. Juli 2007 - II ZR 3/04, BGHZ 173, 246 Rn. 34, 36; Urteil vom 13. Dezember 2007 - IX ZR 116/06, ZIP 2008, 455 Rn. 9, 13; Habersack in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-​Konzernrecht, 10. Aufl., Anh. § 318 AktG Rn. 43 (mit Fn. 161); Staudinger/Oechsler, BGB, Neubearb. 2021, § 826 Rn. 456; Röck, Die Rechtsfolgen der Existenzvernichtungshaftung, 2011, S. 100 f.; aA MünchKommGmbHG/Liebscher, 4. Aufl., Anh. § 13 Rn. 579, 584; Fastrich in Noack/Servatius/ Haas, GmbHG, 23. Aufl., § 13 Rn. 69).

[3]Ob für eine Klage, mit der ein Anspruch wegen Existenzvernichtung nach § 826 BGB verfolgt wird, die internationale Zuständigkeit nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO aF eröffnet ist, ist im Streitfall ebenfalls nicht klärungsbedürftig. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann ein Anspruch, der unter Art. 3 Abs. 1 EuInsVO aF fällt, als nicht in engem Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren stehend angesehen werden, wenn er nach Abtretung vom Zessionar verfolgt wird (EuGH, Urteil vom 19. April 2012 - C-​213/10, ECLI:EU:C:2012:215 Rn. 41 ff. - F-​Tex). Das Berufungsgericht hat seine Zuständigkeit danach zu Recht angenommen.

[4]Es besteht auch keine Veranlassung, dem Europäischen Gerichtshof Fragen vorzulegen, die das auf die Abtretung anwendbare Sachrecht betreffen. Die Abtretung des Anspruchs der Schuldnerin unterliegt nicht nach Art. 4 Abs. 2 Satz 2 Buchst. c) EuInsVO aF dem Insolvenzstatut. Diese Regelung betrifft die Befugnisse des Verwalters (BGH, Beschluss vom 3. Februar 2011 - V ZB 54/10 (IPRspr 2011-317), BGHZ 188, 177 Rn. 12, 16; Uhlenbruck/Knof, InsO, 16. Aufl., Art. 7 EuInsVO Rn. 46; Müller in Mankowski/Müller/ J. Schmidt, EuInsVO 2015, Art. 7 Rn. 23) und nicht das auf die Abtretung als Rechtsgeschäft anzuwendende Sachrecht.

[5]Die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht ("Rom I", ABl. EU L 177 S. 6, ber. 2009 L 309 S. 87) ist ebenfalls nicht zweifelhaft. Zwar obliegt es dem Europäischen Gerichtshof, die Maßstäbe für die Anwendung der Ausweichklausel zu konkretisieren (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009 - C-​133/08, ECLI:EU:C:2012:215 Rn. 53 ff. - Intercontainer Interfrigo SC; Staudinger/Magnus, BGB, Neubearb. 2021, Art. 4 Rom-​I-VO Rn. 139; BeckOGK Rom-​I-VO/Köhler, Stand 1.9.2022, Art. 4 Rn. 173). Die Beschwerde zeigt aber nicht auf, dass es einer Konkretisierung dieser Maßstäbe im Streitfall bedarf. Bei der Prüfung, ob eine offensichtlich engere Verbindung besteht, verfügt das Gericht über einen Beurteilungsspielraum (vgl. EuGH, Urteil vom 10. März 2022 - C-​498/20, ECLI:EU:C:2022:173 Rn. 65- BMA Nederland [zu Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, "Rom II", ABl. L 199 S. 40, ber. 2012 L 310 S. 52]).

[6]...

Fundstellen

Bericht

Hübler, NZI, 2023, 659

nur Leitsatz

NZI, 2023, 208*

LS und Gründe

ZInsO, 2023, 1252
ZEuP, 2024, 454, mit Anm. Zwirlein-Forschner

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2023-269

Lizenz

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