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Verfahrensgang

ArbG Nürnberg, Urt. vom 20.10.2020 – 1 Ca 836/20
LAG Nürnberg, Urt. vom 15.06.2021 – 6 Sa 448/20, IPRspr 2021-352
BAG, Urt. vom 30.11.2022 – 5 AZR 369/21

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht → Individualarbeitsrecht
Allgemeine Lehren → Rechtswahl
Zuständigkeit → Versicherungs-, Verbraucher-, Arbeitsgerichtsstand

Leitsatz

Zwingende Vorschriften i.S.v. Art. 8 Rom I-VO sind Normen, die dem Schutz der Beschäftigten dienen und vertraglich nicht abdingbar sind, hierzu zählen auch Tarifnormen, sofern sie für das Arbeitsverhältnis konkret gelten. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

BGB §§ 305 ff.
EuGVVO 1215/2012 Art. 21
GewO § 106
KSchG §§ 1 ff.
Rom I-VO 593/2008 Art. 3; Rom I-VO 593/2008 Art. 8
TVG § 3; TVG § 4

Sachverhalt

[Siehe auch die im Wesentlichen inhaltsgleiche Parallelentscheidung des LAG Nürnberg vom 12.05.2021 – 2 Sa 29/21 (IPRspr 2021-356).]


Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer Versetzung, hilfsweise um die Wirksamkeit einer vorsorglich erklärten Änderungskündigung und um Weiterbeschäftigung. Der Kläger war seit April 2018 bei der Fluggesellschaft R… DAC als Captain auf dem Muster Boing 737-800 beschäftigt. Sein Arbeitsverhältnis ging zum 1.1.2020 im Weg des Betriebsübergangs auf die Beklagte über. Diese ist eine zur irischen R…-Gruppe gehörende Fluggesellschaft mit Sitz in Malta und Heimatbasis auf dem Flughafen von Malta. Sie führt an verschiedenen Flughäfen in Deutschland sowie in Italien, Frankreich, Malta und Rumänien internationale Flüge durch. Der Kläger ist Mitglied in der Vereinigung Cockpit e.V. Im Arbeitsvertrag des Klägers vom 6./20.3.2018 wurde unter Ziffer 35 die Anwendbarkeit von irischem Recht vereinbart. Der Vertrag wurde seitens der Arbeitgeberin in Irland unterzeichnet. Unter dem 9.9. und 5.11./7.11.2019 schlossen durch die R… DAC, die Beklagte und die Pilotengewerkschaftsvereinigung Cockpit e.V. einen Vergütungstarifvertrag (im Folgenden: VTV) für direkt bei R… angestellte Piloten, die in Deutschland stationiert sind sowie einen Tarifsozialplan (im Folgenden TVSP) bezüglich der Stilllegung/Einschränkung von Stationierungsorten für die Piloten der R… in Deutschland. In § 1 Ziffer 1 VTV wurde festgelegt, dass für alle an deutschen Basen stationierten Piloten rückwirkend zum 1.2.2019 deutsches Recht, mit Ausnahme deutschen Steuerrechts und des Rechts zur betrieblichen Altersversorgung Anwendung findet. Mit zweisprachigem Schreiben vom 20.01.2020 (Blatt 105 ff der Akten), das dem Kläger am 28.01.2020 zuging, wurde dieser mit Wirkung zum 01.05.2020 nach Bologna/Italien versetzt. Vorsorglich kündigte die Beklagte das bestehende Arbeitsverhältnis zum 30.4.2020 und bot gleichzeitig an, das Arbeitsverhältnis ab 1.5.2020 in Bologna als neuem Arbeitsort fortzusetzen. Mit Schreiben vom 11.2.2020 widersprach der Kläger der Versetzung und nahm die Änderungskündigung unter dem Vorbehalt an, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen nicht sozial ungerechtfertigt oder aus anderen Gründen rechtsunwirksam ist. Der tatsächliche Beginn der Tätigkeit des Klägers in Italien wurde aufgrund der COVID-19-Pandemie einvernehmlich auf den 1.7.2020 verschoben. Mit Klage vom 18.02.2020 machte der Kläger die Unwirksamkeit der Versetzung und Änderungskündigung geltend und begehrte seine Weiterbeschäftigung zu den bisherigen Bedingungen. Mit E-Mail vom 8.7.2020 hat die Beklagte dem Kläger einen Arbeitsvertrag nach italienischem Recht übersandt. Das Arbeitsgericht Nürnberg hat mit Endurteil vom 20.10.2020 die Klage abgewiesen. Dabei bejahte es eine internationale Zuständigkeit und hielt die Versetzung des Klägers vom 20.1.2020 nach Bologna zum 1.5.2020 für wirksam. Hiergegen legten die Klägervertreter mit Schriftsatz vom 3.12.2020 Berufung ein.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]B.

[2]Die Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Arbeitsgericht im Ergebnis und auch weitgehend mit zutreffender Begründung die Versetzung des Klägers nach Bologna für wirksam erachtet. Eine Überprüfung der sozialen Wirksamkeit der vorsorglich ausgesprochenen Änderungskündigung war somit nicht veranlasst.

[3]I. Die internationale Zuständigkeit ist – was auch von den Parteien nicht in Zweifel gezogen wird – nach Art. 21 Nr. 2 lit. a EUGVVO gegeben, da der Kläger seine Arbeit zuletzt gewöhnlich von der Base in Nürnberg aus verrichtet hat (Zöller/Geimer, ZPO 33. Aufl., Art. 21 EuGVVO, Rn 6; zur Bedeutung des Begriffs der Heimatbasis als wichtigem Indiz für den Begriff des Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet vgl. BAG 07.05.2020 - 2 AZR 692/19 (IPRspr 2020-142) Rn 27 ff, juris).

[4]II. Die Versetzung nach Bologna ist nach Ansicht des Berufungsgerichts von dem in Ziffer 6.1 des Arbeitsvertrages der Parteien bestimmten Direktionsrecht der Beklagten in Verbindung mit dem Tarifsozialplan gedeckt. Die Frage, ob die Klausel in Ziffer 6.1 des Arbeitsvertrages hinsichtlich der dort bestimmten Vergütungsregelung wirksam ist oder nicht, ist nach Auffassung des Berufungsgerichtes nicht entscheidungserheblich.

[5]1. Die Wirksamkeit der Versetzung von Nürnberg nach Bologna ist nach deutschem Recht zu überprüfen. Dies gilt trotz der Vereinbarung irischen Rechts in Ziffer 135 des Arbeitsvertrags sowohl für die Prüfung der Versetzungsklausel im Arbeitsvertrag als auch für die Frage, ob die Versetzung billigem Ermessen im Sinne des § 106 GewO entspricht.

[6]a. Nach Art. 3 Abs. 1 Rom-I-VO gilt grundsätzlich die freie Rechtswahl. Vorliegend haben die Vertragsparteien ausdrücklich eine Rechtswahl getroffen und die Anwendung irischen Rechts vereinbart. Die Rechtswahl ist im internationalen Arbeitsvertragsrecht jedoch in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt, d.h. unabhängig von einer Vereinbarung über das anzuwendende Recht setzen sich bestimmte zwingende Normen aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes durch. Zunächst folgt aus Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom-I-VO, dass durch die Rechtswahl dem Arbeitnehmer nicht der Schutz der zwingenden Normen des Rechts entzogen werden darf, welches bei objektiver Anknüpfung nach Art. 8 Abs. 2, Abs. 3 oder Abs. 4 Rom-I-VO anzuwenden wäre. Bei objektiver Anknüpfung käme deutsches Recht zur Anwendung, da der Kläger seine Base in Nürnberg hat und daher die Arbeit gewöhnlich von Deutschland aus verrichtet (Art. 8 Abs. 2 Satz 1, 2. Alt. Rom-I-VO; vgl. EuGH 14.09.2017 – C-168/16 und C-169/16; BAG 07.05.2020 - 2 AZR 692/19 (IPRspr 2020-142) Rn 27 ff, juris). Zwingende Vorschriften in diesem Sinne sind Normen, die dem Schutz der Beschäftigten dienen und vertraglich nicht abdingbar sind, z.B. die §§ 1 bis 14 KSchG, sowie die §§ 305 ff BGB (AGB-Kontrolle, ErfK-Schlachter, 21. Aufl., Rom-I-VO, Art. 9 Rz. 19). Hierzu zählen auch Tarifnormen, sofern sie für das Arbeitsverhältnis konkret gelten, § 4 Abs. 1 iVm Abs. 3 TVG (BAG 09.07.2003 - 10 AZR 593/02; ErfK-Schlachter, 21. Aufl., Art. 9 Rom I-VO Rn 19). Anzuwenden ist die für den Arbeitnehmer günstigere Norm, wobei für den Günstigkeitsvergleich zusammengehörige Regelungskomplexe zu vergleichen sind (sog. Sachgruppenvergleich) (so auch Temming in Preis, Der Arbeitsvertrag, 6. Aufl., § 220, Entsendung Rz. 9, mwN).

[7]b. Der zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Versetzung geltende VTV sieht auch ausdrücklich vor, dass rückwirkend ab 01.01.2019 für alle an deutschen Bases stationierten Piloten deutsches Recht zur Anwendung kommt.

[8]aa. Eine solche Vereinbarung des Arbeitsvertrags-Statuts durch Tarifvertrag ist zulässig (ErfK-Schlachter, 21. Aufl., Rom I-VO Art. 9, Rn 7; EuArbRK/Krebber Art. 8 VO 593/2007/EG Rn 9 mwN). Die Notwendigkeit tariflichen Schutzes kann bei grenzüberschreitenden Unternehmenstätigkeiten nicht geringer eingeschätzt werden als bei rein nationalen Sachverhalten. Die anwendbare Rechtsordnung kann die Arbeitsverhältnisse in so erheblichem Ausmaß gestalten, dass sie als tariflich regelbare Arbeitsbedingung einzuordnen ist (ErfK-Schlachter a.a.O). Weitere Voraussetzung ist, dass der entsprechende Tarifvertrag das in Frage stehende Arbeitsverhältnis rechtlich erfasst und gestaltet. Dies ist bei Tarifgebundenheit nach §§ 3 Abs. 1 und 4 Abs. 2 TVG der Fall (EuArbRK/Krebber Art. 8 VO 593/2007/EG Rn 9 mwN). Im vorliegenden Fall liegt beiderseitige Tarifgebundenheit vor. Der Kläger ist Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft Cockpit. Die Rechtsvorgängerin der Beklagten und die Beklagte sind als tarifschließende Arbeitgeber selbst Tarifpartei. Das Arbeitsverhältnis hätte ohne die im Arbeitsvertrag getroffenen Rechtswahl deutschem Arbeitsrecht unterlegen. Die Parteien haben Nürnberg als Homebase des Klägers vereinbart. Aus der Gesamtheit der Umstände ergibt sich nicht, dass der Arbeitsvertrag eine engere Verbindung zu einem anderen Staat im Sinne von Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO hatte.

[9]bb. Die Rechtswahl kann jederzeit geändert werden (Art. 3 Abs. 2 Rom I-VO). Dies haben die Tarifvertragsparteien für an den deutschen Bases stationierten Piloten getan, in dem sie deutsches Recht vereinbart haben. Hinzu kommt, dass die Beklagte und ihre Rechtsvorgängerin selbst Arbeitsvertrags- und Tarifvertragspartei sind. In einem solchen Fall wäre es ohnehin treuwidrig, sich weiterhin auf die Geltung irischen Rechts zu berufen. Dies hat die Beklagte aber auch nicht getan.

[10]2. ...

Fundstellen

LS und Gründe

BeckRS, 2021, 52594

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2021-352

Lizenz

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