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Verfahrensgang

LG Lüneburg, Urt. vom 23.09.2019 – 6 O 106/15
OLG Celle, Urt. vom 23.06.2021 – 14 U 198/19, IPRspr 2021-263

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Sonstige besondere Gerichtsstände
Außervertragliche Schuldverhältnisse → Unerlaubte Handlungen, Gefährdungshaftung

Leitsatz

Welche Stundenzahl zur Berechnung eines fiktiv geltend gemachten Haushaltsführungsschadens in Ansatz zu bringen ist, ist gemäß § 287 ZPO zu schätzen. Gemäß Art. 22 Abs. 2 Rom II-VO ist im Rahmen der Überzeugungsbildung das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht maßgeblich.

Gemäß Art. 15 lit. c) Rom II-VO ist das anzuwendende Recht maßgebend für den entstandenen Schaden, seine Ersatzfähigkeit sowie die Art und Weise und die Bemessung des Schadensersatzes, d. h. es ist auch die Zinsregelung des jeweils anzuwendenden Rechts heranzuziehen. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

1985-677 EntschVerkehrG  (Frankr.) Art. 1; 1985-677 EntschVerkehrG  (Frankr.) Art. 3; 1985-677 EntschVerkehrG  (Frankr.) Art. 12
C. assurances 1930 (Frankr.) Art. L124-3
Cc (Frankr.) Art. 1231-7
EuGVVO 1215/2012 Art. 11; EuGVVO 1215/2012 Art. 13; EuGVVO 1215/2012 Art. 66
Rom II-VO 864/2007 Art. 4; Rom II-VO 864/2007 Art. 15; Rom II-VO 864/2007 Art. 18; Rom II-VO 864/2007 Art. 22; Rom II-VO 864/2007 Art. 31; Rom II-VO 864/2007 Art. 32
ZPO § 287; ZPO § 308; ZPO § 319; ZPO §§ 511 ff.; ZPO § 520

Sachverhalt

Die Klägerin und Berufungsklägerin nimmt die Beklagte auf Ersatz von Schäden aus einem Verkehrsunfall in Anspruch, der sich am 01.10.2013 in Frankreich auf der Route D. zwischen G. und S. T. ereignet hat. In der Berufungsinstanz ist allein noch streitig, ob die Klägerin Anspruch auf Ersatz eines fiktiv berechneten Haushaltsführungsschadens hat. Bei dem Verkehrsunfall wurde die Klägerin, als sie im Begriff war, die Straße zu Fuß zu überqueren, von dem Motorrad des Versicherungsnehmers der Beklagten erfasst und erheblich verletzt. Sie zog sich neben Prellungen und Schürfwunden eine offene Unterschenkelfraktur, einen Trümmerbruch des Hüftgelenks und jedenfalls eine Beckenringfraktur zu.

Das Landgericht Lüneburg hat einen Anspruch der Klägerin auf Ersatz von Haushaltsführungsschaden verneint. Gegen das Urteil hat die Klägerin mit am 27.10.2019 bei dem Oberlandesgericht Celle eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt. Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 23.09.2019 – 6 O 106/16 teilweise abzuändern und die Beklagte weitergehend zu verurteilen, an die Klägerin über die erstinstanzlich zugesprochenen Beträge und Feststellungen hinaus zu zahlen. Der Senat hat auf der Grundlage des Beweisbeschlusses vom 22.04.2020 Beweis durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. M. P. W. erhoben und den Sachverständigen ergänzend mündlich angehört.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II.

[2]Die gemäß §§ 511 ff. ZPO zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte und innerhalb der Frist des § 520 Abs. 2 ZPO begründete Berufung hat überwiegend Erfolg.

[3]Die Klägerin hat gegen die Beklagte aufgrund des Verkehrsunfalles, der sich am 01.10.2013 in Frankreich ereignet hat, gemäß Art. 1, 3 Loi Badinter i. V. m. Art. 124-3 Code Assurances sowie der Nomenclature Dintilhac Anspruch auf Ersatz von Haushaltsführungsschaden in Höhe von ....

[4]1. Zutreffend ist das Landgericht von seiner Zuständigkeit als Wohnsitzgericht der Klägerin in Deutschland ausgegangen. Nach Art. 11 Abs. 1 lit. b i. V. m. Art. 13 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (fortan: EuGVVO; vom Landgericht in der bis zum 09.01.2015 gültigen, jedoch mit Rücksicht auf den Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung hier gemäß Art. 66 Abs. 1 EuGVVO 2015 nicht anzuwendenden Fassung zitiert) kann der Geschädigte, der seinen Wohnsitz in einem Mitgliedsstaat hat, vor dem Gericht seines Wohnsitzes eine Klage unmittelbar gegen den Versicherer erheben, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist und der Versicherer seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedsstaates hat (vgl. EuGH, Urteil v. 13.12.2007 - C 463/06, NJW 2008, 819, 821 Rn. 31; OLG Saarbrücken, Urteil v. 16.01.2014 - 4 U 429/12, IPRspr 2014, Nr. 57, S. 121; jeweils zur EuGVVO a.F.).

[5]Diese Voraussetzungen sind hier gegeben: Die von der Klägerin an ihrem Wohnsitzgericht erhobene Klage unmittelbar gegen den Versicherer des Schädigers, der seinen Sitz in Frankreich hat, ist zulässig i. S. d. Art. 13 Abs. 2 EuGVVO. Maßgeblich für die Zulässigkeit ist insoweit, ob das jeweils anzuwendende materielle Recht einen Direktanspruch des Geschädigten gegen den Versicherer des Schädigers vorsieht (Stadler in Musielak/Voit, 17. Auflage, Art. 13 EuGVVO, Rn. 2).

[6]Da sich der Unfall zwischen G. und S. T. in Frankreich ereignet hat, ist gemäß Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Art. 18 der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht vom 11.07.2012 (Rom-II-VO) französisches Recht anzuwenden. Nach Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO ist auf ein außervertragliches Schuldverhältnis aus unerlaubter Handlung das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Schaden eintritt, unabhängig davon, in welchem Staat das schadenbegründende Ereignis oder indirekte Schadensfolgen eingetreten sind (sog. Tatortprinzip bzw. Deliktstatut). Da sich der Verkehrsunfall nach dem 10.01.2009 ereignet hat, ist auch der intertemporale Anwendungsbereich der Rom II-VO gemäß Art. 31 und Art. 32 Rom II-VO eröffnet.

[7]Das anzuwendende französische Recht sieht nach dem Rechtsgutachten der Sachverständigen Prof. Dr. W. und Prof. Dr. T. vom 12.03.2019 (dort S. 5 und S. 31) in Art. 124-3 Code des Assurances einen Direktanspruch gegen den Kfz-Haftpflichtversicherer des Schädigers vor.

[8]2. Nach dem gemäß Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Art 18 Rom II-VO anzuwendenden materiellen französischen Recht kann die Klägerin dem Grunde nach gemäß Art. 1, 3 Loi Badinter i. V. m. Art. 124-3 Code Assurances sowie der Nomenclature Dintilhac Ersatz von Haushaltsführungsschaden verlangen. Im vorliegenden Fall kann der Ersatzanspruch fiktiv berechnet werden. Entgegen der Ausführungen des Landgerichts (S. 11 LGU, Bl. 285 d. A.) ist ein solcher Schadensersatzanspruch nicht bereits von einem Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens erfasst. Beide Ansprüche stehen vielmehr nebeneinander. Im Einzelnen:

[9]a) ... b) ... c) ... 3. Die Klägerin hat gegen die Beklagte wegen unfallbedingter Einschränkungen in der Haushaltsführung in der Zeit vom Unfalltag bis zum 30.06.2015, d. h. für einen Zeitraum von insgesamt 91 Wochen und 1 Tag der Höhe nach Anspruch auf Ersatz eines Haushaltsführungsschadens in Höhe von ... €. Ein weitergehender Anspruch besteht nicht.

[10]a) Der Senat schätzt den wöchentlich für die Verrichtung der Hausarbeit anfallenden Zeitaufwand der Klägerin auf 24 Stunden.

[11]Welche Stundenzahl in Ansatz zu bringen ist, ist gemäß § 287 ZPO zu schätzen. Gemäß Art. 22 Abs. 2 Rom II-VO ist im Rahmen der Überzeugungsbildung das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht maßgeblich. Es kommt danach darauf an, welche Tätigkeiten im Haushalt die Klägerin vor dem Unfall ausgeführt hat und inwiefern sie hieran verletzungsbedingt gehindert war.

[12]aa) ... bb) ... cc) Der Senat berechnet den erstattungsfähigen Haushaltsführungsschaden wie folgt:

[13](1) ... (2) ... Dieser Betrag bewegt sich auch im Rahmen dessen, was die Klägerin zugesprochen bekommen hätte, hätte sie ihre Ansprüche am Sitz der Beklagten in Frankreich gerichtlich geltend gemacht. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. W. in seinem Gutachten vom 16.01.2021 (dort S. 10 f.) setzen französische Gerichte für eine tierce personne je nach Aufwand, Art und Schwere der Behinderung, erforderlicher Spezialisierung der Hilfskraft und der Region, in der die Hilfstätigkeiten anfallen, durchschnittliche Stundenlöhne, mindestens jedoch den gesetzlichen Mindestlohn an.

[14](3) Unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen ergibt sich folgende Berechnung: ...

[15]4. Der zuerkannte Zinsanspruch rechtfertigt sich unter dem Gesichtspunkt des Verzugs und richtet sich nach französischem Recht.

[16]Gemäß Art. 15 lit. c) Rom II-VO ist das anzuwendende Recht maßgebend für den entstandenen Schaden, seine Ersatzfähigkeit sowie die Art und Weise und die Bemessung des Schadensersatzes, d. h. es ist auch die Zinsregelung des jeweils anzuwendenden Rechts heranzuziehen (Stürner in Erman, BGB, 16. Auflage 2020, Art. 15 Rom II-VO, Rn. 12 bis 14). Grundlage ist 1231-7 Abs. 1 Code Civil, wonach der Anspruchsgegner bei einem Schadensersatzanspruch aufgrund Delikts gesetzliche Verzugszinsen („intérêts moratoires“) schuldet, wenn eine bestimmte Geldsumme geschuldet wird, i. V. m. Art. 12 Loi Badinter sowie dem jeweils gültigen Arrêté relatif à la fixation du taux de l'interêt legal.

[17]Verzugsbeginn ist der 26.07.2015. Nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. W. in seinem Gutachten vom 12.03.2019 (dort S. 19 f.) steht es nach französischer Rechtsprechung im Ermessen des Gerichts, von dem in der Rechtsprechung französischer Gerichte üblicherweise auf die Urteilsverkündung festgesetzten Verzugsbeginn jedenfalls dann abzuweichen und diesen ggf. sogar auf den Zeitpunkt des Unfalles vorzuverlegen, wenn es sich um einen lange zurückliegenden Entstehungsgrund der Forderung handelt und die Vorverlegung des Verzugsbeginns erforderlich ist, um eine gerechte Entschädigung zu gewährleisten. Beide Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der Senat war indes an den Antrag der Klägerin gemäß § 308 Abs. 1 ZPO gebunden, weshalb eine Bestimmung des Verzugsbeginns auf den 01.10.2013 nicht in Betracht kam.

[18]Der Höhe nach bestimmt sich der gesetzliche Zinssatz nach dem seit dem Jahr 2015 jeweils halbjährlich im sogenannten Arrêté relatif à la fixation du taux de l'interêt legal neu festgelegten Prozentsatz, wobei im Falle der Klägerin der für Privatpersonen geltende Zinssatz zugrunde zu legen war.

[19]Der gesetzliche Zinssatz war hier zu verdoppeln. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. W. in seinem Gutachten vom 12.03.2019 (dort S. 22) ist der Versicherer des in den Unfall involvierten Kraftfahrzeugs gemäß Art. 12 Abs. 1 S. 1 Loi Badinter verpflichtet, dem Unfallopfer bei Personenschäden (vgl. Art. 12 Abs. 6 Loi Badinter) aktiv, d. h. ohne vorherige ausdrückliche Aufforderung, binnen acht Monaten ab dem Unfall eine Entschädigung anzubieten, die gemäß Art. 12 Abs. 3 Loi Badinter alle Schadensposten umfasst. Die Verpflichtung besteht auch dann, wenn der Versicherer – wie hier – den Anspruch bestreitet (aaO). Hier hat die Beklagte auf Aufforderungen der Klägerin zur Regulierung nicht reagiert und kein Entschädigungsangebot unterbreitet. Erfolgt kein fristgerechtes Entschädigungsangebot, verdoppelt sich der gesetzliche Verzugszins auf die Entschädigungssumme ab dem Ende der Frist bis zu dem Tag, an dem der Versicherer ein Angebot macht oder das Urteil rechtskräftig wird (aaO, S. 23 oben).

[20]5. Auf den entsprechenden Antrag der Klägerin war der Tenor zu Ziffer 1. Im angefochtenen Urteil hinsichtlich des Ausspruchs zu den Zinsen antragsgemäß nach § 319 ZPO dahin zu berichtigen, dass nach dem maßgeblichen Arrêté relatif à la fixation du taux de l'interêt legal Zinsen aus dem zuerkannten Betrag in Höhe von 7,2 % für die Zeit vom 01.07.2018 bis zum 31.12.2018 und nicht wie versehentlich tenoriert bis zum 13.12.2018 geschuldet sind. Wie der Sachverständige Prof. Dr. W. in seinen Gutachten ausgeführt hat, werden die Zinssätze für das gesamte Halbjahr eines jeden Jahres festgesetzt.

[21]III.

[22]Nach alledem war das angefochtene Urteil auf die Berufung der Klägerin teilweise abzuändern, die weitergehende Berufung war zurückzuweisen ...

Fundstellen

LS und Gründe

NJW-RR, 2021, 1253

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2021-263

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