Bei sogenannten Grenzpendlern (hier: zwischen Deutschland und Polen) bestimmt sich die internationale Zuständigkeit in Erbsachen ab dem 17.8.2015 nach Art. 4 ff. EuErbVO und damit grundsätzlich nach dem letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers. Letzterer ist unter Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der persönlichen familiären Eingliederung des Erblassers in den (Aufenthalts-)Mitgliedstaat unter Berücksichtigung der Erwägungsgründe 23 und 24 der EuErbVO zu bestimmen. Dies kann dazu führen, dass der gewöhnliche Aufenthalt eines bejahrten Grenzpendlers, der im Zweitstaat nicht integriert ist, beim Erststaat verbleibt, obwohl dieser keinen Wohnsitz mehr dort hat. Die örtliche Zuständigkeit bestimmt sich dann nach nationalem Recht und knüpft gemäß § 343 II FamFG neuer Fassung an den letzen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland an.
Die Amtsgerichte Pankow-Weißensee und Wedding streiten über die Zuständigkeit in einem Nachlassfall mit Auslandsberührung. Der Erblasser hatte bis zum Februar 2010 seinen Erstwohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt im Bezirk des AG Wedding. Ab diesem Zeitpunkt bezog er eine Wohnung in einer Lagerhalle im westpolnischen G. unweit der Oder bei K. und behielt lediglich für „Meldezwecke“ einen Zweitwohnsitz bei seiner Tochter in Berlin-Pankow bei. Von seiner Wohnung in Polen aus war er im fortgeschrittenen Rentenalter als Bauunternehmer und -berater in seinem bisherigen Tätigkeitsbereich Berlin-Brandenburg tätig, um weiterhin Nebeneinkünfte zu erzielen. Am 8.2.2016 verstarb der Erblasser. Am 11.3.2016 schlug die Tochter des Erblassers vor dem für ihren Wohnsitz zuständigen AG Berlin-Pankow die Erbschaft nach ihrem Vater aus und übergab Geschäftsunterlagen und den Schlüsseln für die Wohnung in G.
Das AG Pankow-Weißensse hat sich für unzuständig erklärt und die Sache gemäß § 343 II FamFG an das AG Wedding verwiesen. Das AG Wedding hat sich ebenfalls für unzuständig erklärt und die Sache dem KG zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits vorgelegt.
[1]II. Der Senat ist zur Entscheidung des zwischen den Amtsgerichten Pankow-Weißensee und Wedding bestehenden Streits über die örtliche Zuständigkeit berufen (§ 5 I 1 Nr. 4 FamFG).
[2]Eine ‚Verweisung’ des Verfahrens über die Entgegennahme der Ausschlagung an das AG Wedding entbehrt einer gesetzlichen Grundlage.
[3]1. Das NachlG beim AG Pankow-Weißensee ist für die Entgegennahme der Ausschlagungserklärung der Tochter des Erblassers gemäß § 31 IntErbRVG i.V.m. Art. 13 EuErbVO zuständig, weil diese als diejenige Person, die die Ausschlagung erklärt, in dessen Amtsbezirk ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Beim Verfahren über die Entgegennahme einer Ausschlagung eines Erbes handelt es sich um eine Nachlasssache, die in die Zuständigkeit der Nachlassgerichte fällt. Es ist eines von mehreren Verfahren, die im Zusammenhang mit dem Anfall eines Nachlasses denkbar sind (vgl. die Aufstellung in § 342 FamFG). Nach Beendigung des Ausschlagungsverfahrens verbleibt die Akte bei diesem Gericht. Das Verfahren über die Entgegennahme einer Ausschlagungserklärung ist jedoch erst mit der Aushändigung der Urschrift der Niederschrift der (Ausschlagungs-)Erklärung (nach der EuErbVO) bzw. der Weiterleitung der Erklärung an das zuständige NachlG (gemäß § 1953 III 1 BGB) beendet. Ob dies geschehen ist, lässt sich dem in der Akte befindlichen Protokoll nicht entnehmen.
[4]2. Soweit die erbausschlagende Tochter beim AG Pankow-Weißensee schriftliche Unterlagen und Schlüssel aus dem Besitz des Verstorbenen übergeben hat, könnte eine besondere örtliche Zuständigkeit gemäß § 344 IV FamFG gegeben sein, wenn in diesem Gerichtsbezirk ein Bedürfnis zur Sicherung des Nachlasses besteht. Ein solches Bedürfnis kann mangels nachvollziehbarer Angaben jedoch im Hinblick auf die Art und Beschaffenheit der übergebenen Gegenständen nicht festgestellt werden.
[5]3. Im Zusammenhang mit den weiteren Angaben der erbausschlagenden Tochter könnte die Durchführung weiterer Nachlassverfahren (Sicherung des Nachlasses, Ermittlung der Erben, Eröffnung von Verfügungen von Todes wegen etc.) erforderlich sein.
[6]Wegweisend und vorbehaltlich weiterer Erkenntnisse und Feststellungen zu diesem Nachlassfall weist der Senat auf Folgendes hin:
[7]Das AG Wedding könnte als örtlich zuständiges NachlG zu bestimmen sein. Seine Zuständigkeit folgt aus § 343 II FamFG i.d.F. vom 29.6.2015 i.V.m. Art. 4 EuErbVO. Die vorgenannte Neufassung von § 343 FamFG ist zusammen mit der EuErbVO zum 17.8.2015 in Kraft getreten.
[8]Die internationale Zuständigkeit in Erbsachen für Erbfälle mit Auslandsbezug ab dem 17.8.2015 ergibt sich nunmehr grundsätzlich aus Art. 4 ff. EuErbVO i.V.m. § 97 FamFG (vgl. Zöller-Geimer, ZPO, 31. Aufl., Vor §§ 97–110 Rz. 45; ders. aaO. § 105 FamFG Rz. 5). Die EuErbVO ist ein europäischer Rechtsakt, der Vorrang vor den Vorschriften des FamFG hat (§ 97). Durch die Anwendung der EuErbVO soll ein Gleichlauf des anwendbaren Erbrechts mit dem Recht des (Aufenthalts-)Mitgliedstaats des Erblassers im Todeszeitpunkt – abgesehen von den in der VO vorgesehenen abweichenden Fällen der Rechtswahl und der Prorogation – hergestellt werden (vgl. Palandt-Weidlich, BGB, 75. Aufl., § 1960 Rz. 8 i.V.m. § 2353 Rz. 6 ff. m.w.N.). Nach Art. 4 EuErbVO ist hinsichtlich der Gerichtszuständigkeit nicht zwischen streitiger und freiwilliger Gerichtsbarkeit zu unterscheiden und an den letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers anzuknüpfen. Dieser könnte im vorliegenden grenzüberschreitenden Fall entweder in Polen oder in Deutschland gelegen haben. Der letzte gewöhnliche Aufenthalt ist in diesem Zusammenhang entsprechend dem Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts nach der Rspr. des EuGH zur EuEheVO (vgl. Dutta-Herler-Hess, Die Europäische Erbrechtsverordnung, 2014, 134 f. m.w.N.) unter Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls, insbes. der persönlichen und familiären Eingliederung des Erblassers in den (Aufenthalts-)Mitgliedstaats zu bestimmen. Darüber hinaus sind für eine Auslegung die Erwgr. 23 f. der EuErbVO heranzuziehen (vgl. Geimer-Schütze-Wall, Int. Rechtsverkehr [Stand: Nov 2015], Art. 4 EuErbVO Rz. 6, 54 ff.). Maßgebend bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts ist danach der ‚Mittelpunkt des Lebensinteresses des Erblassers’. Dies erfordert eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod und im Zeitpunkt seines Todes unter Berücksichtigung aller relevanten Tatsachen, insbesondere der Dauer und der Regelmäßigkeit des Aufenthalts des Erblassers im Zweitstaat.
[9]Vorliegend spricht eine weit überwiegende Gesamtheit von Umständen dafür, dass der Erblasser seinen Lebensmittelpunkt im dargestellten Sinne bis zu seinem Tod in Deutschland hatte. Die Erwgr. 23 f. zur EuErbVO führen konkrete Merkmale auf, nach denen der gewöhnliche Aufenthalt in solchen Fällen eines ‚Grenzpendlers’ zu bestimmen ist. Bei sog. Grenzpendlern soll es beim Herkunftsstaat als gewöhnlicher Aufenthalt bleiben, wenn dort der familiäre und soziale Schwerpunkt des Erblassers verblieb. So ist es im vorliegenden Fall:
[10]Die Familie des Erblassers, der erst im Jahr 2010 im Alter von 72 Jahren seinen Erstwohnsitz in Berlin-R. aufgegeben hatte, verblieb im Raum Berlin-B. Dieser unterhielt die üblichen familiären Kontakte unverändert bei. In der Wohnung der Tochter in Berlin-Pankow behielt er einen Zweitwohnsitz lediglich für ‚Meldezwecke’ bei, ohne sich dort jedoch tatsächlich aufzuhalten. Eine Integration am neuen Wohnort in G./Polen – unweit der deutsch-polnischen Grenze bei K./Oder – erfolgte kaum. Der Erblasser sprach kein Polnisch. In das Dorf- und Vereinsleben war er nicht integriert. Persönliche Kontakte beschränkten sich auf Unterhaltungen mit und Anweisungen an ortsansässige Hilfskräfte und gelegentliche Gespräche mit dem deutschkundigen Ortspfarrer. Eine neue Familie gründete er in Polen nicht. Ärzte und Krankenhäuser suchte der Erblasser nur in Deutschland auf.
[11]Der Erblasser erzielte sämtliche Einkünfte (Renten, Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit im Baugewerbe) in Deutschland. Konten unterhielt er weiterhin in Deutschland. Praktisch täglich überquerte er im Rahmen seiner Tätigkeit im Baugewerbe die Oder, um an seine Baustellen und zu seinen Kunden zu gelangen. Die Entscheidung für die Anmietung des Teils einer Lagerhalle in G. mit eingebauter Wohnung erfolgte ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen (deutlich günstigere Miete als in Deutschland) und Zweckmäßigkeitserwägungen (kurze Wege zu den Kunden in Berlin-B.). Es bestand unverändert eine besonders enge und feste Bindung an den Heimatstaat des Erblassers (vgl. Geimer-Schütze-Wall aaO Rz. 54).
[12]Die örtliche Zuständigkeit des AG Wedding folgt aus § 47 Nr. 2 i.V.m. § 2 IV IntErbRVG, Art. 4 EuErbVO, § 343 II FamFG n.F., weil es sich um eine Angelegenheit der freiwilligen Gerichtsbarkeit handelt. Weil der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von Art. 4 EuErbVO in Deutschland hatte, folgt die örtliche Zuständigkeit des AG Wedding gemäß § 343 II FamFG n.F. aus dem, Umstand, dass der Erblasser in dessen Bezirk seinen letzten (tatsächlichen) Aufenthalt im Inland hatte. Auf die entsprechenden Vorschriften im FamFG (§§ 105, 343) verweist § 47 Nr. 2 IntErbRVG. Der Umstand, dass in § 343 II die Zuständigkeit des Gerichts des letzten gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland darin begründet ist, dass der Erblasser keinen gewöhnlichen Aufenthalt (mehr) in Deutschland hatte, und andererseits – wie dargelegt – von einem gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von Art. 4 EuErbVO des sog. Grenzpendlers in Deutschland auszugehen ist, ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Art. 4 EuErbVO bestimmt die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte im Nachlassfall mit Auslandsbezug unter autonomer Auslegung des Begriffs des ‚gewöhnlichen Aufenthalts’ im Todeszeitpunkt. Die örtliche Zuständigkeit regelt das nationale Recht (Art. 2 EuErbVO; vgl. Zöller-Geimer aaO Art. 1 EuErbVO Rz. 12). Dies ist in der Regelung gemäß § 47 Nr. 2 i.V.m. § 2 IV IntErbRVG, Art. 4 EuErbVO, § 343 II FamFG n.F. wie dargelegt zum Inkrafttreten der EuErbVO geschehen. Mangels Feststellbarkeit eines einzigen Orts des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers, der ständig den Raum Berlin-B. bis zu seinem Tode bereist hat, ist für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit die Anknüpfung an den letzten gewöhnlichen (d.h. ‚ständigen’) Aufenthalt im Bezirk des AG Wedding sachgerecht (§ 343 II FamFG).