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Verfahrensgang

OLG Stuttgart, Beschl. vom 31.07.2015 – 17 UF 127/15, IPRspr 2015-108

Rechtsgebiete

Kindschaftsrecht → Kindesentführung

Leitsatz

Die Rückführung eines Kindes ist nicht schon wegen der psychischen Belastungen, die aus der Änderung der Bezugsperson, des Wechsels der Wohnung, der Schule oder aus Kontaktverlusten resultieren können, gemäß Art. 13 I lit. b HKiEntÜ abzulehnen; es müssten darüber hinaus besonders schwerwiegende Beeinträchtigungen des Kindeswohls zu erwarten sein.

Ein entgegenstehender Wille des Kindes ist gemäß Art. 13 II HKiEntÜ zu beachten, wenn das Kind sich der Rückgabe widersetzt und es ein Alter und eine Reife erreicht hat, die die Beachtung seiner Meinung angebracht erscheinen lassen. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

EMRK Art. 8
FamFG § 58; FamFG §§ 58 ff.; FamFG § 65
HKÜ Art. 12; HKÜ Art. 13
IntFamRVG § 40

Sachverhalt

Der ASt. möchte die Rückführung des gemeinsamen Kindes N. nach dem HKiEntÜ nach Polen erreichen. ASt. und AGg. sind die verheirateten Eltern einer zehnjährigen Tochter. N. ist in Polen aufgewachsen und dort zur Schule gegangen. Während des Sommers 2014 arbeitete die AGg., wie schon häufiger, als Pflegekraft in Deutschland. Der ASt. stimmte einem zweimonatigen Aufenthalts der Tochter bei der AGg. in Deutschland zu. Nach der Rückkehr der AGg. mit N. Ende August 2014 trennten sich die Eltern. Ohne den ASt. vorab zu informieren, zog die AGg. mit N., als der ASt. über das Wochenende einen auswärtigen Termin wahrnahm, nach G./Deutschland zu ihrem neuen Lebensgefährten. N. wohnt seitdem dort und besucht die örtliche Schule. Zwischenzeitlich ist in Polen ein Scheidungs- und eine Sorgerechtsverfahren anhängig. Das BfJ leitete mit Antrag vom 10.4.2015 das vorliegende Rückführungsverfahren ein. Das AG bestellte N. einen Verfahrensbeistand. Nach Anhörung von N. und Durchführung einer mündlichen Verhandlung verpflichtete das AG die AGg., N. nach Polen zurückzuführen. Gegen diesen Beschluss hat die AGg. Beschwerde eingelegt.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. Die gemäß §§ 40 II 1 IntFamRVG, 58 I FamFG statthafte Beschwerde ist zulässig, jedoch unbegründet, weshalb sie zurückzuweisen ist.

[2]1. Die Beschwerde ist innerhalb der Frist von zwei Wochen gemäß § 40 II 2 IntFamRVG eingelegt worden. Der Zulässigkeit nicht entgegen steht, dass die Beschwerde nicht gleichfalls innerhalb dieser Frist begründet wurde, was die Formulierung von § 40 II 2 IntFamRVG nahe legt, wonach die Beschwerde auch innerhalb von zwei Wochen zu begründen ist. Eine Begründung ist jedoch keine Zulässigkeitsvoraussetzung einer Beschwerde im HKiEntÜ-Verfahren. Das ergibt sich aus der Verweisungsvorschrift des § 40 II 1 IntFamRVG. Denn § 40 II 1 IntFamRVG nimmt von der Verweisung auf die §§ 58 ff. FamFG den § 65 II FamFG aus, der die Möglichkeit einer Fristsetzung für die Beschwerdebegründung vorsieht. § 65 I FamFG greift hingegen ein, wonach die Beschwerde nur begründet werden soll. Eine Begründung ist demnach nicht zwingend (die Kommentierung nimmt sich des Problems nicht ausdrücklich an und ist insoweit unklar, z.B. Hausmann, Internationales und Europäisches Scheidungsrecht, 2013, § 40 IntFamRVG N 307; Nomos-BR/Wagner, Internationales Familienverfahrensgesetz [2012], § 40 Rz. 2; MünchKommFamFG-Gottwald, 2. Aufl., § 40 IntFamRVG Rz. 2).

[3]§ 40 II 2 IntFamRVG bewirkt folglich, dass der Beschwerdeführer, falls er die Beschwerde begründen möchte, dies nur innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Beschlusses erledigen kann, ohne dass das BeschwG die Frist verlängern darf (zu Letzterem Hausmann aaO). Wird die Beschwerde nicht innerhalb von zwei Wochen begründet, kann das BeschwG unmittelbar entscheiden, ohne das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers zu verletzen.

[4]Die von der AGg. versäumte Begründungsfrist ändert nichts daran, dass der Senat seiner Entscheidung sämtlichen bis zu diesem Zeitpunkt eingegangenen Vortrag der Beteiligten zugrunde zu legen hat. Eine Präklusionsvorschrift existiert nicht.

[5]2. Die Voraussetzungen des Art. 12 I HKiEntÜ liegen vor. Die AGg. hat das Kind widerrechtlich nach Deutschland verbracht, indem sie ohne Zustimmung des mitsorgeberechtigten ASt. am ... 2014 mit dem Kind aus Polen ausgereist ist. Dies wird in der Beschwerde auch nicht mehr beanstandet, weshalb insoweit auf die Ausführungen des AG im angefochtenen Beschluss verwiesen wird.

[6]Die AGg. meint lediglich, der Rückführung stünden Art. 13 I lit. b und II HKiEntÜ entgegen. Deren Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor.

[7]a) Nach Art. 13 I lit. b HKiEntÜ ist die Rückführung bei einer schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen und seelischen Schadens für das Kind abzulehnen.

[8]Die Vorschrift ist eng auszulegen, um dem Sinn und Zweck des HKiEntÜ Geltung zu verleihen, eine im Ursprungsstaat getroffene Sorgeregelung zügig umzusetzen bzw. eine solche zu erreichen sowie der Präventivwirkung des HKiEntÜ Rechnung zu tragen. Es genügt deshalb nicht die mit jeder Rückführung des Kindes verbundene psychische Belastung, die aus der Änderung der Bezugsperson, des Wechsels der Wohnung, der Schule oder aus Kontaktverlusten resultiert. Vielmehr müsste darüber hinaus eine besonders schwerwiegende Beeinträchtigung des Kindeswohls zu erwarten sein (Hausmann aaO Art. 13 HKiEntÜ N 184 m.w.N.). Darunter fallen u.a. die Gefahr von Kindesmisshandlungen oder die Gefahr für Leib oder Leben, z.B. in einem Kriegsgebiet. Die von der AGg. vorgebrachten Gründe, die einer Rückführung nach Art. 13 I lit. b HKiEntÜ entgegenstehen sollen, sind effektiv zu prüfen und das Ergebnis der Prüfung ist darzulegen. Wenn aufgrund aussagekräftiger psychologischer Gutachten eine schwerwiegende Gefahr für das Kind hinreichend konkretisiert wird, ist dies weiter aufzuklären. Ansonsten wäre Art. 8 EMRK verletzt (EGMR, Urt. vom 26.11.2013 – 27853/09, zit. n. juris).

[9]Die AGg. bringt ausschließlich solche Gründe vor, die im Rahmen des Art. 13 I lit. b HKiEntÜ gerade nicht zu berücksichtigen sind, wie den Wechsel der Bezugsperson, der Wohnung und der Schule oder Kontaktverluste zu mittlerweile in Deutschland gefundenen Freundinnen. Darüber hinaus geht allein der Umstand, dass N. über soziale Medien von ihren ehemaligen Klassenkameraden aus Polen gemobbt worden sein soll. Es ist jedoch nicht zwingend, dass N. in Polen ihre ehemalige Schule wieder besuchen müsste, so dass der Aspekt bereits deswegen nicht eingreift.

[10]b) Die Rückführung scheitert schließlich nicht am entgegenstehenden Willen von N. (Art. 13 II HKiEntÜ). Dieser ist zu beachten, wenn das Kind sich der Rückgabe widersetzt und es ein Alter und eine Reife erreicht hat, die die Beachtung seiner Meinung angebracht erscheinen lassen. Ob dies bei einem zehnjährigen Kind grundsätzlich bereits der Fall sein kann, wird unterschiedlich beurteilt (vgl. Hausmann aaO N 202 m.w.N.). Die erforderliche Reife von N. kann vorliegend dahingestellt bleiben, nachdem sie sich der Rückführung nicht ernsthaft und nachdrücklich widersetzt.

[11]N. hat sowohl in der Anhörung vor dem AG als auch zuletzt im Beschwerdeverfahren gegenüber ihrem Verfahrensbeistand geäußert ..., ihr gefalle es in Deutschland und bei ihrer Mutter besser als bei ihrem Vater. Die Gründe hierfür hat sie nachvollziehbar dargelegt. Sie stimmen nur teilweise mit den Behauptungen der AGg. in der Beschwerdebegründung überein. N. schwebt vor, in Deutschland zu bleiben und den Vater und die sonstige Verwandtschaft in Polen während der Schulferien zu besuchen. Auch wenn N. geäußert hat, sie werde nicht in einen Bus nach Polen steigen und habe Angst vor der Rückkehr nach Polen, ist dies kein Widersetzen im Sinne von Art. 13 II HKiEntÜ. Ängste und Befürchtungen sind bei einer solchen Veränderung vollkommen üblich und gehen über die übliche Belastung für ein zwischen den Elternteilen und verschiedenen Ländern hin- und hergerissenes Kind nicht hinaus. Dass N. alleine in einen Bus nach Polen steigen müsste, wie sie sich eine Rückführung anscheinend vorstellt, trifft nicht zu. Vielmehr wird sie bei einer Rückführung jedenfalls vom Jugendamt unterstützt und, so ist zu hoffen, auch von der AGg., deren Verpflichtung es ist, N. sicher und behütet nach Polen zu bringen. Selbst wenn die Aussage von N. insoweit nicht wörtlich zu verstehen wäre, läge darin kein Widersetzen. Sie drückt damit schlicht ihre Befürchtungen vor einer selbstverständlich für sie belastenden Rückführung aus. Es finden sich keine Äußerungen dahingehend, was sie tatsächlich im Falle einer Rückführung zu tun gedenkt, um diese zu verhindern. Eine für Art. 13 II HKiEntÜ ausreichende Ernstlichkeit ist darin nicht zu erkennen. Vielmehr schildert N. in ihren Angaben vor dem AG und dem Verfahrensbeistand ausführlich die durchaus auch mit positiven Seiten behaftete Situation in Polen, die lediglich durch eine Abwägung schlechter als diejenige in Deutschland beurteilt wird. Solche Aspekte sind jedoch nicht im Rückführungsverfahren, sondern im Sorgerechtsverfahren zu beleuchten.

Fundstellen

Bericht

Niethammer-Jürgens, FamRB, 2015, 459, mit Anm.
NJW-Spezial, 2015, 678

nur Leitsatz

NZFam, 2015, 1032, mit Anm. Schmid

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2015-108

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