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Verfahrensgang

BGH, Beschl. vom 21.12.2011 – I ZR 144/09, IPRspr 2011-3

Rechtsgebiete

Allgemeine Lehren → Ermittlung, Anwendung und Revisionsfähigkeit ausländischen Rechts

Leitsatz

Aus § 293 ZPO leitet sich die Pflicht des Tatrichters ab, das für die Entscheidung eines Rechtsstreits maßgebliche ausländische Recht von Amts wegen zu ermitteln. Die Parteien trifft keine (prozessuale) Beweisführungslast; allerdings kann der Umfang der Ermittlungspflicht durch den Vortrag der Parteien beeinflusst werden.

Erhebt eine Partei substanziierte Einwände gegen ein vom Gericht eingeholtes Gutachten zum ausländischen (hier: taiwanesischen) Recht, hat das Gericht eine ergänzende Rechtsauskunft einzuholen.

Hat sich eine Partei den Inhalt einer wissenschaftlichen Stellungnahme zum ausländischen Recht (hier: des US-Bundesstaats New York) zu eigen gemacht und vorgetragen, hat das Gericht diesen zu berücksichtigen. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

CCT 1929 (Taiwan) Art. 639
GG Art. 103
HGB § 421; HGB § 437
ZPO § 293

Sachverhalt

Die Kl. ist Transportversicherer der P. AG in W. (Versicherungsnehmerin). Sie nimmt die Bekl., bei denen es sich um Gesellschaften eines internationalen Paketbeförderungsunternehmens handelt, wegen Verlusts von Transportgut aus abgetretenem und übergegangenem Recht auf Schadensersatz in Anspruch. Die Bekl. zu 1) hat ihren Sitz in Taiwan, die Bekl. zu 2) in Deutschland. Die Versicherungsnehmerin bestellte bei der J. Inc. in Taipeh Speicherchips. Die J. Inc. übergab der Bekl. zu 1) noch am selben Tag die in zwei Paketen verpackte Ware und beauftragte sie mit dem Transport dieser Ware zur Versicherungsnehmerin. Die Bekl. zu 1) beförderte beide Pakete per Luftfracht zum Flughafen Köln/Bonn. Dort übernahm die Bekl. zu 2) beide Pakete zum Weitertransport zur Versicherungsnehmerin. Ein Paket kam bei der Versicherungsnehmerin an, das zweite Paket ging während des Landtransports verloren. Die Kl. hat die Bekl. wegen des Verlusts als Gesamtschuldner auf Schadensersatz nebst Zinsen in Anspruch genommen.

Das Berufungsgericht hat der Klage in seinem ersten Urteil vom 19.12.2005 mit Ausnahme eines geringfügigen Teils der beanspruchten Zinsen stattgegeben. Dieses Urteil hat der Senat auf die Revision der Bekl. aufgehoben (Urt. vom 30.10.2008 – I ZR 12/06 (IPRspr 2008-38), TranspR 2009, 130). In dem jetzt mit der Nichtzulassungsbeschwerde angegriffenen Urteil hat das Berufungsgericht das die Klage abweisende erstinstanzliche Urteil bestätigt.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht bei seiner Annahme, die Bekl. zu 1) könne sich nach taiwanesischem Recht auf einen vollständigen Haftungsausschluss berufen, das Verfahrensgrundrecht der Kl. auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG) verletzt hat (dazu unter II. 2). Auch die weitere Annahme des Berufungsgerichts, die Kl. habe nicht schlüssig dargelegt, dass nach dem Recht des Staates New York ein Schadensersatzanspruch der Empfängerin gegen die Bekl. zu 2) in Betracht komme, verletzt den Anspruch der Kl. auf rechtliches Gehör (dazu unter II. 3) ...

[2]2. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass die Verfahrensweise des Berufungsgerichts die Kl. in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG) verletzt.

[3]a) Die Rspr. hat aus § 293 ZPO die Pflicht des Tatrichters abgeleitet, das für die Entscheidung eines Rechtsstreits maßgebliche ausländische Recht von Amts wegen zu ermitteln (BGH, Urt. vom 30.4.1992 – IX ZR 233/90 (IPRspr. 1992 Nr. 265), BGHZ 118, 151, 162; Urt. vom 25.1.2005 – XI ZR 78/04 (IPRspr 2005-12), NJW-RR 2005, 1071, 1072). Die Parteien trifft keine (prozessuale) Beweisführungslast. Der Umfang der Ermittlungspflicht kann allerdings durch den Vortrag der Parteien beeinflusst werden. Eine Verletzung des § 293 ZPO ist revisibel (IX ZR 233/90 aaO; Thomas-Putzo-Reichold, ZPO, 32. Aufl., § 293 Rz. 10; Musielak-Huber, ZPO, 8. Aufl., § 293 Rz. 8).

[4]b) Die Kl. hat gegen die vom Berufungsgericht verwertete Auskunft des Max-Planck-Instituts Einwände erhoben. Sie hat mit Schriftsatz vom 28.5.2009 vorgetragen, der Bekl. zu 1) seien die Zollunterlagen einschl. der Lieferrechnung übergeben worden. In diesen Unterlagen seien sowohl die Warengattung als auch der Wert des Guts angegeben, sodass die Bekl. zu 1) Kenntnis vom Wert der Warensendung gehabt habe. Es stelle sich daher die Frage, ob unter Berücksichtigung des Verschuldens der Bekl. zu 1) zumindest deren anteilige Haftung in Betracht komme. Darüber hinaus hat die Kl. ausdrücklich um die Einholung eines Ergänzungsgutachtens gebeten, damit auch neuere Entscheidungen taiwanesischer Gerichte berücksichtigt werden könnten.

[5]Dieses Vorbringen der Kl. hätte das Berufungsgericht zum Anlass nehmen müssen, ein ergänzendes Rechtsgutachten einzuholen. Von der Kl. war kein weiterer Vortrag zum Inhalt des taiwanesischen Rechts zu erwarten, weil sie deutsches Recht für anwendbar hielt und zudem nicht ersichtlich war, dass sie über Erkenntnisquellen hins. der Haftung des Frachtführers für Verlust von Transportgut nach taiwanesischem Recht verfügte (vgl. XI ZR 78/04 aaO). Zudem hatte die Kl. die Frage aufgeworfen, ob der Versender seiner Obliegenheit zur Wertangabe nach Art. 639 I des taiwanesischen Zivilgesetzes vom 23.5.1929 i.d.F. vom 26.4.2000 (nachfolgend taiw. ZGB) auch durch Übermittlung der Ausfuhrdokumente nachkomme, aus denen sich die Warengattung und der Lieferwert ergeben. Die Rechtsauskunft des Max-Planck-Instituts vom 10.2.2004 beantwortet diese Frage nicht. In dem der Auskunft zugrunde liegenden Fall war nur die Warengattung im Frachtbrief genannt. Auf Seite 15 der Auskunft wird insoweit ausgeführt, zwar würden die beförderten Güter in den Frachtbriefen als computer parts (without software) bezeichnet, sodass der Frachtführer Informationen über die natürliche Beschaffenheit der Güter erhalten habe. Konkrete Angaben zum Wert dieser Computerteile seien allerdings nicht gemacht worden. Da der Absender zum Zeitpunkt der Absendung nicht den Wert der beförderten Güter angegeben habe, sei die Haftung des Frachtführers gemäß Art. 639 I taiw. ZGB ausgeschlossen. Die Kl. hat indes gerade vorgetragen, dass der Wert des Guts in den der Bekl. zu 1) für die Zollabfertigung übergebenen Unterlagen angegeben gewesen sei. Dementsprechend ist das ausländische Recht unter Berücksichtigung der Rspr. sachkundig dahin zu ermitteln, ob die Bekl. zu 1) die Haftungsbefreiung in Anspruch nehmen kann, obwohl sie die Ausfuhrdokumente erhalten hatte und damit Kenntnis über den Wert der Waren erlangen konnte.

[6]Zu der weiteren von der Kl. aufgeworfenen Frage, ob eine Haftungsabwägung nach Verantwortungsbereichen vorzunehmen sei, enthält die Rechtsauskunft des Max-Planck-Instituts vom 10.2.2004 ebenfalls keine Ausführungen. Das Berufungsgericht hätte daher durch Einholung einer sachkundigen Rechtsauskunft auch ermitteln müssen, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Wegfall der Haftungsbefreiung in Betracht kommt, insbes., ob dies bei Vorsatz oder einem qualifizierten Verschulden des Frachtführers der Fall ist und ob der Frachtführer sich ggf. ein qualifiziertes Verschulden des von ihm beauftragten Unterfrachtführers zurechnen lassen muss.

[7]3. Die Verneinung eines Schadensersatzanspruchs gegen die Bekl. zu 2) verletzt die Kl. ebenfalls in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG).

[8]a) Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob der zwischen den Bekl. geschlossene Unterfrachtvertrag dem Recht des US-Bundesstaats New York oder dem deutschen Recht unterliegt. Es hat angenommen, wenn das Recht des US-Bundesstaats New York zur Anwendung komme, sei von dem Vortrag der Bekl. zu 2) auszugehen, dass das Recht dieses Staats dem Empfänger bei einem Verlust von Transportgut keine Schadensersatzansprüche gewähre, da die Kl. nicht plausibel dargelegt habe, dass im Streitfall etwas anderes gelte.

[9]b) Die Nichtzulassungsbeschwerde macht mit Erfolg geltend, dass das Berufungsgericht auch bei dieser Beurteilung erheblichen Vortrag der Kl. unter Verstoß gegen Art. 103 I GG unberücksichtigt gelassen hat.

[10]Das Berufungsgericht hat der Kl. in der mündlichen Verhandlung am 1.7.2009 gestattet, zu der von der Bekl. zu 2) erstmals im wiedereröffneten Berufungsverfahren geltend gemachten Anwendung des Rechts des US-Bundesstaats New York bis zum 17.8.2009 Stellung zu nehmen. Innerhalb dieser Frist hat die Kl. zum Sachrecht des Staates New York weiter vorgetragen und die wissenschaftliche Stellungnahme von Prof. Dr. L. vom 11.8.2009 vorgelegt, in der u.a. ausgeführt wird, ebenso wie im deutschen Recht nach §§ 421 I 2, 437 HGB sei auch im New Yorker Recht klar, dass Verträge die ein Güterbeförderungsunternehmen in Ausführung eines ihm erteilten Auftrags mit Subunternehmen abschließe, unmittelbar dem Kunden zugute kommen sollten, der daher auch gegen alle in die Beförderung seiner Güter involvierten Unternehmen gleichermaßen vorgehen könne, selbst wenn er mit ihnen keine direkten Verträge abgeschlossen habe.

[11]Damit wird im Ergebnis ein Anspruch der Empfängerin gegen die Bekl. zu 2) bejaht. Den Inhalt der wissenschaftlichen Stellungnahme hat sich die Kl. zu eigen gemacht und vorgetragen. Das Berufungsgericht hätte ihn daher berücksichtigen müssen. Dem angegriffenen Urteil kann nicht entnommen werden, dass dies geschehen ist, sodass von einem Verstoß gegen Art. 103 I GG auszugehen ist.

Fundstellen

nur Leitsatz

GRUR-RR, 2012, 135

LS und Gründe

TranspR, 2012, 110

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2011-3

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