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Verfahrensgang

BGH, Beschl. vom 28.04.2011 – XII ZB 170/11, IPRspr 2011-275

Rechtsgebiete

Anerkennung und Vollstreckung → Ehe- und Kindschaftssachen
Kindschaftsrecht → Kindesentführung

Leitsatz

Art. 16 HKiEntÜ steht einer Entscheidung im Verfahren auf Nichtanerkennung einer ausländischen Sorgerechtsentscheidung gemäß Art. 21 III EuEheVO nicht entgegen.

Hat das Oberlandesgericht einen Antrag auf Nichtanerkennung zurückgewiesen, bedarf es keiner Anordnung der sofortigen Wirksamkeit der Entscheidung gemäß § 27 II IntFamRVG. Hat das Oberlandesgericht dennoch die sofortige Wirksamkeit angeordnet, geht seine Anordnung ins Leere. Deshalb fehlt es dem hiervon Betroffenen an einem Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf Aufhebung dieser Anordnung gemäß § 31 IntFamRVG.

Rechtsnormen

EuEheVO 2201/2003 Art. 8; EuEheVO 2201/2003 Art. 8 ff.; EuEheVO 2201/2003 Art. 10; EuEheVO 2201/2003 Art. 21; EuEheVO 2201/2003 Art. 21 ff.; EuEheVO 2201/2003 Art. 22 ff.; EuEheVO 2201/2003 Art. 28 ff.; EuEheVO 2201/2003 Art. 31
HKÜ Art. 3; HKÜ Art. 16
IntFamRVG § 1; IntFamRVG §§ 16 ff.; IntFamRVG § 27; IntFamRVG § 31; IntFamRVG § 32

Sachverhalt

Der ASt. begehrt die Nichtanerkennung einer ungarischen Sorgerechtsentscheidung. Aus der Beziehung des ASt. mit der AGg. ist das Kind A. hervorgegangen. Mit Beschluss übertrug das Gerichts des II. und III. Stadtbezirks in Budapest (im Folgenden: Stadtbezirksgericht) unter Abänderung der vorangegangenen Regelungen im Wege der einstweiligen Anordnung die Betreuung und die Erziehung des Kindes der AGg. Der mit dem Kind in Deutschland lebende ASt. wurde verpflichtet, das Kind innerhalb von drei Tagen nach Ungarn zu verbringen und an die Kindesmutter zu übergeben sowie Kindesunterhalt zu zahlen. Des Weiteren wurde das Umgangsrecht des Kindesvaters vorläufig geregelt.

Das AG Bamberg hat dem Antrag des ASt., die o.g. Entscheidung nicht anzuerkennen, mit Beschluss stattgegeben. Auf die hierauf von der AGg. eingelegte Beschwerde hat das OLG Bamberg die Entscheidung des AG aufgehoben, den Antrag des ASt. zurückgewiesen und u.a. die sofortige Wirksamkeit des Beschlusses angeordnet. Hiergegen wendet sich der ASt. mit seiner bereits eingelegten, aber noch nicht begründeten Rechtsbeschwerde. Zudem beantragt er gemäß § 31 IntFamRVG, die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit aufzuheben.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. Der Antrag auf Aufhebung der sofortigen Wirksamkeit ist mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig und war daher zurückzuweisen.

[2]1. Der Antrag ist allerdings gemäß § 31 IntFamRVG statthaft.

[3]Das BeschwG ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass auf das vorliegende Verfahren die Art. 21 ff. EuEheVO anzuwenden sind und damit für das Verfahren gemäß § 1 Nr. 1 IntFamRVG die §§ 32, 16 bis 31 IntFamRVG entspr. gelten (s. hierzu Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht EuZPR/EuIPR [Bearb. 2010] Art. 21 Brüssel-IIa-VO Rz. 42; s. auch Geimer-Schütze-Dilger, Internationaler Rechtsverkehr [Erg.-Lfg. 29], Nr. 545 Einl. B vor I Rz. 32 ff.).

[4]a) Erlässt ein nach Art. 8 ff. EuEheVO in der Hauptsache zuständiges Gericht eine einstweilige Maßnahme, richtet sich die Anerkennung und Vollstreckung dieser Maßnahme in anderen Mitgliedstaaten nach Art. 21 ff. EuEheVO (Senatsbeschluss vom 9.2.2011 – XII ZB 182/08 (IPRspr 2011-274), FamRZ 2011, 542 Rz. 16 u. Hinw. auf das Urteil des EuGH vom 15.7.2010 – Purrucker: Bianca Purrucker ./. Guillermo Vallés Pérez, Rs C-256/09, Slg. 2010 I-07353, FamRZ 2010, 1521). Dabei ist für die Anwendung der Art. 21 ff. EuEheVO darauf abzustellen, ob das Ursprungsgericht seine Zuständigkeit auf Art. 8 ff. EuEheVO gestützt hat (vgl. Senatsbeschluss vom 9.2.2011 aaO Rz. 22). Ist zweifelhaft, worauf das Ursprungsgericht seine Zuständigkeit gestützt hat, ist anhand der in der Entscheidung des Ursprungsgerichts enthaltenen Ausführungen zu prüfen, ob dieses seine Zuständigkeit auf eine Vorschrift der EuEheVO stützen wollte (Senatsbeschluss vom 9.2.2011 aaO Rz. 23).

[5]b) Danach sind die Art. 21 ff. EuEheVO vorliegend anwendbar. Zwar hat das Stadtbezirksgericht in seinem Beschluss vom 15.11.2010 nicht ausdrücklich auf die Zuständigkeitsnormen der EuEheVO Bezug genommen. Jedoch ergibt sich aus der Begründung des Beschlusses, dass der ASt. den Aufenthaltsort des Kindes nach Auffassung des Stadtbezirksgerichts durch den Umzug nach Deutschland willkürlich verändert und damit gegen die Regelung des elterlichen Sorgerechts verstoßen hat. Dem lässt sich entnehmen, dass das Stadtbezirksgericht von dem Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 10 EuEheVO ausgegangen ist, wonach bei widerrechtlichem Verbringen eines Kindes die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, grundsätzlich zuständig bleiben, wenn nicht die – hier nicht einschlägigen – weiteren Voraussetzungen vorliegen. Im Übrigen hat das Gericht in seinem Beschluss auch Bezug genommen auf das Urteil vom 12.2.2010 ..., in dem das Gericht – freilich zu einem Zeitpunkt, als das Kind noch in Ungarn lebte – ausdrücklich von seiner Zuständigkeit gemäß Art. 8 EuEheVO ausgegangen war. Nach alledem ergibt sich die Hauptsachezuständigkeit ersichtlich aus der erlassenen Entscheidung (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 9.2.2011 aaO Rz. 24).

[6]c) Findet somit das IntFamRVG Anwendung, so ist der Antrag des ASt. gemäß § 31 IntFamRVG statthaft, weil das BeschwG nach § 27 II IntFamRVG die sofortige Wirksamkeit des Beschlusses angeordnet hat.

[7]2. Einer Entscheidung im Verfahren auf Nichtanerkennung der genannten Entscheidung steht auch Art. 16 HKiEntÜ nicht entgegen.

[8]Zwar ergibt sich aus dem von dem ASt. in Bezug genommenen Schreiben des BfJ vom 5.4.2011, dass das Rückführungsverfahren nach dem Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung betrieben wird. Demgemäß kommt Art. 16 HKiEntÜ zur Anwendung, wonach die Gerichte des Vertragsstaats, in den das Kind verbracht wurde, eine Sachentscheidung über das Sorgerecht erst treffen dürfen, wenn entschieden ist, dass das Kind aufgrund dieses Übereinkommens nicht zurückzugeben sei, oder wenn innerhalb angemessener Frist nach der Mitteilung kein Antrag nach dem Übereinkommen gestellt werde. Mithin dürfen sie keine in die elterliche Verantwortung eingreifenden Maßnahmen treffen (Senatsbeschluss vom 22.6.2005 – XII ZB 186/03 (IPRspr 2005-174), FamRZ 2005, 1540, 1544).

[9]Im hier anhängigen Verfahren ist jedoch keine Sachentscheidung über das Sorgerecht zu treffen. Vielmehr geht es lediglich um die Nichtanerkennung einer bereits erlassenen Sorgerechtsentscheidung und bezogen auf den hier zu bescheidenden Antrag nach § 31 IntFamRVG lediglich um die Frage, ob die Entscheidung über die Ablehnung des Antrags auf Nichtanerkennung ihre sofortige Wirksamkeit behält. Für das HKiEntÜ-Verfahren ist jedoch nicht die Frage der Anerkennung maßgeblich, sondern gemäß Art. 3 Satz 1 lit. a HKiEntÜ das Sorgerecht, das einer Person nach dem Recht des Staats zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

[10]3. Jedoch fehlt dem Antrag des ASt. das Rechtsschutzbedürfnis.

[11]Das Rechtsschutzbedürfnis fehlt, wenn der Rechtsschutzsuchende kein schutzwürdiges Interesse an der begehrten Entscheidung haben kann (vgl. Zöller-Greger, ZPO, 28. Aufl., Vor § 253 Rz. 18).

[12]Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit durch das BeschwG war unnötig, sodass ihre Aufhebung die Rechtsposition des ASt. nicht zu verbessern vermag.

[13]a) Die §§ 16 bis 31 IntFamRVG gelten für das Verfahren auf Zulassung der Zwangsvollstreckung. Demgemäß ermöglicht es die Regelung des § 27 II IntFamRVG, also die dort vorgesehene Anordnung der sofortigen Wirksamkeit, ‚die Entscheidung in der Hauptsache, d.h. die Zulassung der Zwangsvollstreckung, praktisch vorwegzunehmen’ (so ausdrücklich die Gesetzesbegründung BT-Drucks. 15/ 3981 S. 26).

[14]Dagegen sind die o.g. Normen auf das Verfahren der Anerkennungsfeststellung gemäß § 32 IntFamRVG nur entsprechend bzw. ‚sinngemäß’ anzuwenden (Rauscher aaO).

[15]Weil die Entscheidung über die Zurückweisung des Antrags auf Nichtanerkennung nach Art. 21 III EuEheVO bzw. § 32 IntFamRVG schon ihrem Inhalt nach keine Veränderung der durch Art. 21 I EuEheVO vorgegebenen Rechtslage bewirkt, geht der Verweis des § 32 IntFamRVG auf §§ 27 II, 31 IntFamRVG hier ins Leere.

[16]b) Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit der Entscheidung über die Zurückweisung des Antrags auf Nichtanerkennung der ungarischen Sorgerechtsentscheidung hat auch keine Auswirkungen auf ein parallel betriebenes Verfahren auf Vollstreckbarerklärung hins. der Herausgabeanordnung.

[17]Unbeschadet des Umstands, ob die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung des BeschwG angeordnet bleibt, ist das Gericht, das in einem weiteren Verfahren gemäß Art. 28 ff. EuEheVO zu prüfen hat, ob die mit der Sorgerechtsentscheidung verbundene Herausgabeanordnung für vollstreckbar zu erklären ist, nicht an die – nicht rechtskräftige – Entscheidung des BeschwG in diesem Verfahren gebunden. Sofern seiner Auffassung nach keine Ablehnungsgründe im Sinne der Art. 22 bis 24 EuEheVO gegeben sind (vgl. Art. 31 II EuEheVO) und die übrigen Voraussetzungen vorliegen, hat es dem Antrag stattzugeben.

[18]Dabei kann dahinstehen, ob die angegriffene Entscheidung, also die Zurückweisung des Antrags auf Nichtanerkennung, eine positive Bindungswirkung insoweit erzeugen kann, als die Vollstreckbarerklärung nicht an der Anerkennungsfähigkeit der Sorgerechtsentscheidung scheitern darf. Eine solche Bindungswirkung träte nämlich allenfalls mit Rechtskraft der Entscheidung des BeschwG ein (vgl. Zöller-Vollkommer aaO § 322 Rz. 11, wonach die Rechtskraftwirkung der aus Sachgründen abgewiesenen negativen Feststellungsklage derjenigen eines Urteils entspricht, das einer umgekehrten positiven Feststellungsklage des Beklagten stattgegeben hätte). Durch die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit wird jedoch keine Rechtskraft erzeugt. Vielmehr wird die Wirksamkeit einer Entscheidung, die gemäß § 27 I 1 IntFamRVG an sich erst mit der Rechtskraft der Entscheidung eintritt, durch die Anordnung nach § 27 II IntFamRVG vorverlagert.

[19]c) Schließlich bleibt es dem ASt. unbenommen, bei einer etwaigen Vollstreckbarerklärung der in der Sorgerechtsentscheidung angeordneten Herausgabe und einer entsprechenden Anordnung der sofortigen Wirksamkeit einen Antrag nach § 31 IntFamRVG zu stellen.

Fundstellen

LS und Gründe

FamRZ, 2011, 959
FuR, 2011, 463
JAmt, 2011, 482
MDR, 2011, 663
NJW-RR, 2011, 865

nur Leitsatz

FamRZ, 2011, 1046, mit Anm. Schulz
FGPrax, 2011, 181
ZKJ, 2011, 302

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2011-275

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