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Verfahrensgang

AG Geldern, Urt. vom 27.10.2010 – 4 C 356/10, IPRspr 2010-54

Rechtsgebiete

Außervertragliche Schuldverhältnisse → Unerlaubte Handlungen, Gefährdungshaftung
Allgemeine Lehren → Ermittlung, Anwendung und Revisionsfähigkeit ausländischen Rechts

Leitsatz

Auch ungeschriebene, von der ausländischen Rechtsprechung aufgestellte Regelungen über den Anscheinsbeweis sind durch das deutsche Gericht zu beachten, wenn dieses ausländisches Recht anwendet.

Rechtsnormen

BGB § 1006
BW 6 (Niederl.) Art. 162
EGBGB Art. 6; EGBGB Art. 43
EUGVVO 44/2001 Art. 9; EUGVVO 44/2001 Art. 11
Rom II-VO 864/2007 Art. 4; Rom II-VO 864/2007 Art. 18; Rom II-VO 864/2007 Art. 22; Rom II-VO 864/2007 Art. 26
Rv (Niederl.) Art. 150
WAM (Niederl.) Art. 6
WVW 1994 (Niederl.) Art. 1; WVW 1994 (Niederl.) Art. 185

Sachverhalt

Am 21.2.2010 ereignete sich in A./NL ein Verkehrsunfall, an dem die Kl. mit ihrem Fahrzeug und Herr X mit seinem niederl. Pkw beteiligt waren. Die Bekl. ist die niederl. Kfz-Haftpflichtversicherung des Herrn X. Dieser fuhr auf das Fahrzeug der Kl. auf. An der Unfallstelle bestand zum Unfallzeitpunkt wegen Bauarbeiten eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 50 kmh. Nachdem die Kl. zunächst einen Betrag von 1 259,78 Euro geltend machte, erklärte sie den Rechtsstreit i.H.v. 959,78 Euro für erledigt, da insoweit ihre Kaskoversicherung den Schaden ausgeglichen habe. Die Bekl. hat sich der Teilerledigungserklärung in der mündlichen Verhandlung angeschlossen.

Die Kl. beantragt, die Bekl. auf Zahlung von Schadensersatz zu verurteilen.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]Die zulässige Klage ist unbegründet.

[2]I. Die Klage ist zulässig. Das angerufene Gericht ist gemäß Art. 11 II, 9 I lit. b EuGVO international und örtlich zuständig: Bei Verkehrsunfällen kann der Geschädigte die Kfz-Haftpflichtversicherung an seinem Wohnsitz verklagen, wenn das anzuwendende Rechtsstatut einen Direktanspruch des Geschädigten gegen die Versicherung vorsieht (EuGH, NJW 2008, 819, 820). Der streitgegenständliche Verkehrsunfall unterliegt gemäß Art. 4 I i.V.m. Art. 18 Rom-II-VO niederl. Recht. Es kann dahinstehen, ob das angerufene Gericht aufgrund der Verweisung auch Art. 3 des Haager Übereinkommens über das auf Straßenverkehrsunfällt anzuwendende Recht vom 4.5.1971 zu beachten [hat], weil die Niederlande anders als Deutschland Vertragsstaat dieses Abkommens sind, da auch jene Vorschrift zur Anwendung niederl. Rechts führt, weil der Unfallort in den Niederlanden gelegen ist. Das niederl. Recht sieht in Art. 6 I 1 Wet aansprakelijkheidsverzekering motorrijtuigen (WAM) vom 30.5.1963 (StB 223) einen Direktanspruch des Geschädigten gegen den Kfz-Haftpflichtversicherer des Schädigers vor (Asser-Hartkamp, Verbintenissenrecht, Verbintenis uit de wet, 9. Aufl., Bd. 3, Rz. 233).

[3]II. Die Klage ist jedoch unbegründet.

[4]1. Die Kl. hat gegen die Bekl. keinen Anspruch auf Zahlung von 300 Euro gemäß Art. 6 I 1 WAM i.V.m. Art. 185 I Wegenverkeerswet vom 21.4.1994 (StB 1996, 475; nachfolgend WVW).

[5]a) Ein Anspruch scheitert nicht daran, dass die Kl. ihr Eigentum an dem beschädigten Kfz nicht nachgewiesen hätte. Die Bekl. hat die Eigentumsvermutung des § 1006 I BGB nicht widerlegt. Die Kl. hat das Auto unstreitig in ihrem Besitz. Gemäß Art. 43 I EGBGB ist insoweit ausschl. deutsches Recht anzuwenden. Das Automobil befindet sich in Deutschland. Es hat auch seinen gewöhnlichen Belegenheitsort im Inland, was an seinem amtlichen deutschen Kraftfahrzeugkennzeichen ersichtlich ist.

[6]b) Art. 185 I WVW begründet auch einen Schadensersatzanspruch gegen den Eigentümer und den Halter eines Kraftfahrzeugs, wenn durch dieses ein Schaden verursacht wird; dabei wird ein Verschulden des Fahrzeugeigentümers/-halters vermutet. Gemäß Art. 185 III WVW gilt die Vorschrift aber nicht bei Unfällen mit freilaufenden Tieren und mit anderen Kraftfahrzeugen in Bewegung oder an Personen oder Sachen, die mit dem anderen Kraftfahrzeug befördert werden (Hijma-Olthof, Nederlands vermogensrecht, 6. Aufl., Rz. 433b). Streitgegenständlich ist ein Unfall zweier Automobile, die Kraftfahrzeuge im Sinne von Art. 1 I lit. c WVW sind.

[7]2. Die Kl. hat gegen die Bekl. auch keinen Anspruch auf Zahlung von 300 Euro aus Art. 6 I 1 WAM i.V.m. Art. 6:162 BW. Verkehrsunfälle zweier Kraftfahrzeuge richten sich im niederl. Recht nach Art. 6:162 BW, der allgemeinen Vorschrift über die unerlaubte Handlung (onrechtmatige daad) im niederl. Recht (vgl. Hijma-Olthof aaO; Feyock-Jacobsen-Lemor, Kraftfahrtversicherung, 3. Aufl., 4. Teil C XIX Rz. 1). Ein Verkehrsunfall, bei dem es zur Beschädigung eines Kraftfahrzeugs kommt, erfüllt den objektiven Tatbestand einer unerlaubten Handlung nach Art. 6: 162 I BW.

[8]Die Kl. ist jedoch beweisfällig geblieben für den ihr gemäß Art. 6:162 III BW i.V.m Art. 150 Wetboek van burgerlijke Rechtsvordering (Rv) obliegenden Nachweis, dass der Versicherungsnehmer der Bekl. [Herr X] den Unfall verschuldet hat.

[9]a) Dass der Versicherungsnehmer der Bekl. mit seinem Fahrzeug auf das Fahrzeug der Kl. aufgefahren ist, begründet keinen Beweis des ersten Anscheins dafür, dass er den Unfall verschuldet hat. Nach niederl. Recht lässt sich der Tatsache, dass der Auffahrende sein Fahrzeug nicht zum Stillstand bringen konnte, ohne einen Zusammenstoß zu vermeiden, kein Anscheinsbeweis entnehmen, dass dieser den Unfall verursacht oder verschuldet habe (Hoge Raad, Urt. vom 13.4.2001 – C99/215HR, Rz. 3.2 = Verkeersrecht [VR] 2001, 120). Das erkennende Gericht hat gemäß Art. 22 I Rom-II-VO die Beweislastregelungen und gesetzliche Vermutungen des niederl. Rechts zu beachten. Dies gilt auch für die allgemeine Beweislastregel des Art. 150 Rv, die grundsätzlich jeder Partei die Beweislast für die ihr günstigen Tatsachen auferlegt. Dass diese im Rv, der niederl. ZPO, geregelt ist, steht dem nicht entgegen. Durch den autonom auszulegenden Art. 22 I Rom-II-VO sind Beweislastregeln als materiell-rechtliche Vorschrift anzusehen, auch wenn deren Rechtsnatur im nationalen Recht als prozessrechtlich angesehen wird. Gemäß Art. 22 I Alt. 2 Rom-II-VO hat das erkennende Gericht nicht nur die gesetzlich festgeschriebenen Beweislastregeln des ausländischen Rechts anzuwenden, sondern auch die in der dortigen Rechtspraxis aufgestellten tatsächlichen Vermutungen, auf die die Rspr. aufgrund der Lebenserfahrung einen Anscheinsbeweis gründet (MünchKomm-Junker, 5. Aufl., Art. 22 Rom-II-VO Rz. 8). Wendet ein deutsches Gericht ausländisches Recht an, hat es dabei nicht nur den Gesetzeswortlaut zu beachten, sondern auch die Rechtswirklichkeit dieser Vorschriften, die sich insbes. aus deren Anwendung in der ausländischen Rspr. ergibt (vgl. BGH, NJOZ 2001, 1, 2 m.w.N. (IPRspr. 2001 Nr. 1)).

[10]b) Art. 26 Rom-II-VO schließt die Anwendung der niederl. Beweislastregelung nicht aus. Die Beweislastverteilung des niederl. Rechts beim Auffahrunfall verstößt nicht offensichtlich gegen die deutsche öffentliche Ordnung, auch wenn nach deutschem Recht ein Anscheinsbeweis zulasten des Auffahrenden besteht (vgl. BGH, MDR 1964, 314; NJW 1982, 1595, 1596). Zwar mag für eine deutsche Prozesspartei schwer nachvollziehbar sein, dass ein deutsches Gericht die Beweislast bei einem Auffahrunfall diametral anders bewertet, wenn der Unfall in den Niederlanden stattgefunden hat, als wenn die Unfallstelle in Deutschland lag. Dies ist jedoch die natürliche Folge dessen, dass in diesen Fällen das niederl. Recht anzuwenden ist. Dass ausländisches Recht einen Sachverhalt anders regelt als das deutsche Recht, vermag allein aber keinen Verstoß gegen die deutsche öffentliche Ordnung zu begründen. Ein Verstoß gegen Art. 6 EGBGB und dementsprechend gegen Art. 26 Rom-II-VO läge nur dann vor, wenn der Kernbereich der deutschen Rechtsordnung durch die Anwendung der ausländischen Vorschrift verletzt würde (BT-Drucks. 10/504 S. 42; Palandt-Thorn, BGB, 68. Aufl., Art. 6 EGBGB Rz. 4). Dieser Kernbereich ist vorliegend offenkundig nicht betroffen.

[11]c) Dem Vortrag der Kl. lässt sich nicht entnehmen, dass der Versicherungsnehmer der Bekl. den Unfall verschuldet hat. Es kann dahinstehen, ob die Kl. den Unfall durch ihr Einbiegen auf die Straße verursacht hat. Es ergäben sich keine Erkenntnisse für die tatsächliche Unfallursache, wenn dies nicht unfallursächlich gewesen wäre. Ein Verschulden des Versicherungsnehmers der Bekl. ist nicht dargetan. Es liegt kein dem Beweis zugänglicher Vortrag vor, dass er den gebotenen Sicherheitsabstand verletzt oder die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hätte. Die bloße Behauptung der Kl., der Versicherungsnehmer der Bekl. habe ‚den erforderlichen Sicherheitsabstand’ nicht eingehalten, ist kein ordnungsgemäßer Vortrag, da dies keine Tatsachenbehauptung, sondern eine reine Wertung ist.

Fundstellen

LS und Gründe

DAR, 2011, 210
NJW, 2011, 686

Aufsatz

Staudinger, NJW, 2011, 650 A

Permalink

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