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Verfahrensgang

BGH, Beschl. vom 20.05.2010 – IX ZB 121/07, IPRspr 2010-267

Rechtsgebiete

Anerkennung und Vollstreckung → Vermögensrechtliche Angelegenheiten

Leitsatz

Einer inländischen Vollstreckbarerklärung eines ausländischen (hier: schweizerischen) Urteils steht gemäß Art. 27 Nr. 1 LugÜ der Einwand des ordre public entgegen, wenn das Gericht des Urteilsstaats die Frist für die Einzahlung des Kostenvorschusses für die Berufungsinstanz so knapp angesetzt hat (Einzahlung innerhalb von zwei Tagen), dass der Antragsgegner in verfassungsrechtlich erheblicher Weise an der Wahrnehmung seiner Rechte gehindert war, und auch die Möglichkeit einer Fristverlängerung nicht besteht.

Rechtsnormen

AVAG § 15
GG Art. 103
LugÜ Art. 27; LugÜ Art. 54b
ZPO § 574

Sachverhalt

Das Bezirksgerichts O./Schweiz verpflichtete den AGg. durch Urteil vom 22.1.2004 (EO 65/03), an der mit den ASt. gemeinsamen Grundstücksgrenze stehende Bäume zu entfernen, legte ihm die Kosten des Verfahrens auf und verurteilte ihn zur Zahlung einer außeramtlichen Entschädigung und einer „Motivierung“. Eine gegen dieses Urteil fristgerecht eingelegte Berufung des AGg. schrieb das Kantonsgericht A.-I./Schweiz mit Bescheid vom 7.4.2004 (KE 19/04) ab, weil der AGg. einen von ihm mit am 8.3.2004 zugestelltem Schreiben geforderten Kostenvorschuss für das Berufungsverfahren innerhalb einer Frist bis zum 10.3.2004 nicht eingezahlt hatte. Zuvor hatte es einen Fristverlängerungsantrag des AGg. bis zum 26.3.2004 abgelehnt. Dieser hatte den Vorschuss daraufhin bis zum Erlass des Abschreibungsbescheids auch nicht eingezahlt.

Mit Beschluss vom 20.2.2007 hat der Vorsitzende einer Zivilkammer des LG die Entscheidung des Bezirksgerichts O./Schweiz hinsichtlich der dort festgelegten Zahlungsbeträge für vollstreckbar erklärt. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde hat keinen Erfolg gehabt. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der AGg. weiterhin die Aufhebung der Vollstreckbarerklärung.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. Das gemäß §§ 15 I AVAG, 574 I 1 Nr. 1 ZPO statthafte Rechtsmittel ist zulässig (§ 574 II Nr. 1 ZPO) und begründet.

[2]1. Auf das vorliegende Verfahren findet das LugÜ Anwendung, da die Schweiz nicht Mitgliedstaat der EU ist (Art. 54b II lit. c LugÜ).

[3]2. Der von dem AGg. gerügte Verstoß gegen den verfahrensrechtlichen ordre public, der gemäß Art. 27 I Nr. 1 LugÜ die Vollstreckbarerklärung der Entscheidung hindern könnte, greift durch. Für den Verstoß eines ausländischen Urteils gegen den ordre public ist maßgebend, dass das Ergebnis der Anwendung des ausländischen Rechts zu den Grundgedanken der deutschen Regelungen und der in ihnen enthaltenen Gerechtigkeitsvorstellungen in so starkem Widerspruch steht, dass es nach inländischen Vorstellungen untragbar erscheint (sog. ordre public international – BGHZ 50, 370, 375 f. (IPRspr. 1968–1969 Nr. 127b); 75, 32, 43 (IPRspr. 1979 Nr. 83); 118, 312, 330 (IPRspr. 1992 Nr. 265); BGH, Urt. vom 21.1.1991 – II ZR 50/90, NJW 1991, 1418, 1420 (IPRspr. 1991 Nr. 1b (Parallelentscheidung)); Kropholler, Europäisches Zivilrecht, 8. Aufl., Art. 34 EuGVÜ Rz. 13 ff.). Die Beachtung der Grundrechte gehört zum Inhalt der deutschen öffentlichen Ordnung (BGHZ 144, 390, 392 f.) (IPRspr. 2000 Nr. 154). Diese ist verletzt, wenn eine Entscheidung unter Verstoß gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren zustande gekommen ist.

[4]a) Nach st. Rspr. des BVerfG darf der Zugang zum Gericht sowie zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 88, 91; 41, 23, 26; 67, 208, 212 f.; 69, 381, 385; 85, 337, 347; 88, 118, 123 ff.). Art. 103 I GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die von den Fachgerichten zu treffende Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (BVerfG, NJW-RR 2004, 1150, 1151).

[5]b) Eine derartige Erschwerung, die im Prozessrecht keine Stütze hat, liegt vor, wenn Ausschlussfristen für die Einzahlung von Vorschüssen derart knapp bemessen werden, dass es unmöglich ist, sie einzuhalten, und innerhalb der laufenden Frist beantragte Fristverlängerungen nicht gewährt werden. Dies ist hier der Fall. Das schweizerische Berufungsgericht hat die Frist für die Einzahlung des Kostenvorschusses für die Berufungsinstanz so knapp angesetzt, dass der AGg. in verfassungsrechtlich erheblicher Weise an der Wahrnehmung seiner Rechte gehindert war. Eine nicht verlängerbare Ausschlussfrist von zwei Tagen, innerhalb derer der Vorschuss für die Durchführung eines Berufungsverfahrens im Überweisungswege über eine Post- oder Bankverbindung in der Schweiz eingezahlt werden muss, andernfalls das Verfahren ‚abgeschrieben’ wird, ist mit dem deutschen Zivilprozessrecht schlechthin unvereinbar. Es steht deshalb der Vollstreckbarerklärung einer ausländischer Entscheidungen entgegen, wenn es gegen diese Entscheidung im Ausland zwar eine weitere Instanz gibt, der Zugang zu dieser Rechtsmittelinstanz aber durch eine unzumutbar knapp bemessenen Frist für die Einzahlung des Vorschusses so erschwert wird, dass von einer Verletzung tragender rechtsstaatlicher Grundsätze ausgegangen werden muss. Auch wenn gegen den Bescheid des Bezirksgerichts O./Schweiz für sich gesehen keine durchgreifenden Einwendungen bestehen, die die Nichtanerkennung der Entscheidung rechtfertigen könnten, kann das Urteil wegen des unfairen Rechtsmittelverfahrens gegen diese Entscheidung nicht für vollstreckbar erklärt werden.

Fundstellen

LS und Gründe

EuZW, 2010, 960
NJW-RR, 2010, 1221
WM, 2010, 1522

nur Leitsatz

IWB, 2010, 620, mit Anm. Wilke

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2010-267

Lizenz

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