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Verfahrensgang

BVerwG, Urt. vom 07.04.2009 – 1 C 17.08, IPRspr 2009-82

Rechtsgebiete

Kindschaftsrecht → Kindschaftsrecht gesamt bis 2019

Leitsatz

Ein Elternteil ist nicht allein personensorgeberechtigt im Sinne des § 32 III AufenthG in Verbindung mit Art. 4 I 1 lit. c der Richtlinie 2003/86/EG des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung vom 22.9.2003 (ABl. Nr. L 251/12), wenn dem anderen Elternteil bei der Ausübung der Personensorge substanzielle Mitentscheidungsrechte und -pflichten zustehen, etwa in Bezug auf Aufenthalt, Schule und Ausbildung oder Heilbehandlung des Kindes. Wem das Sorgerecht für ein Kind zusteht, beurteilt sich nach dem Recht des Staats, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 21 EGBGB).

Die Auslegung und Anwendung ausländischen Rechts ist revisionsrechtlich als Tatsachenfeststellung zu behandeln und deshalb den Tatsachengerichten vorbehalten. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

AufenthG § 5; AufenthG § 16; AufenthG § 29; AufenthG § 32
AuslG § 20
EGBGB Art. 21
EuEheVO 2201/2003 Art. 2
Familienzusammenführungs-RL 2003/86/EG Art. 3; Familienzusammenführungs-RL 2003/86/EG Art. 4; Familienzusammenführungs-RL 2003/86/EG Art. 16; Familienzusammenführungs-RL 2003/86/EG Art. 20; Familienzusammenführungs-RL 2003/86/EG Art. 21
VwGO § 137

Sachverhalt

Der am 14.10.1990 geborene Kl. begehrt ein Visum zum Zweck des Familiennachzugs zu seinem im Bundesgebiet lebenden Vater. Der Kl. und seine nicht miteinander verheirateten Eltern stammen aus dem Kosovo. Sein Vater heiratete im April 2004 eine deutsche Staatsangehörige; er lebt seit Juni 2004 in Deutschland und ist im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. Im November 2005 beantragte der Kl. beim Deutschen Verbindungsbüro in P. die Erteilung eines Visums zur Familienzusammenführung. Entsprechende Anträge wurden inzwischen auch von seinen drei jüngeren Geschwistern gestellt. Mit Beschluss der Regierung von Kosovo (Ministerium für Arbeit und Soziale Wohlfahrt) vom 27.2.2006 wurden die Kinder dem Vater zur Versorgung, Obhut und Erziehung zugesprochen. Die im Kosovo lebende Mutter erklärte sich mit einer Übersiedlung des Kl. zum Vater nach Deutschland einverstanden.

Den Antrag des Kl. lehnte das Verbindungsbüro zuletzt mit Remonstrationsbescheid vom 16.5.2006 ab. Das VG Berlin hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Kl. hat das OVG Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 21.5.2008 das erstinstanzliche Urteil geändert und die Bekl. unter Aufhebung des ablehnenden Bescheids verpflichtet, dem Kl. ein Visum zur Familienzusammenführung zu erteilen. Hiergegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision der Bekl.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]Die Revision der Bekl. ist zulässig und begründet. Das Berufungsurteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 I Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat einen Anspruch des Kl. auf Erteilung eines Visums zum Zwecke des Familiennachzugs zu seinem hier lebenden Vater mit einer Begründung bejaht, die revisionsgerichtlicher Prüfung nicht standhält: Unter Verstoß gegen Bundesrecht hat es einen Nachzugsanspruch des Kl. in entsprechender Anwendung des § 32 III AufenthG bejaht ...

[2]1. Der Kl. hat weder in unmittelbarer noch – wie vom Berufungsgericht angenommen – in entsprechender Anwendung des § 32 III AufenthG einen Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Familiennachzug. Nach dieser Bestimmung ist dem minderjährigen Kind eines Ausländers, welches das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, eine Aufenthaltserlaubnis – und vor der Einreise gemäß § 6 IV 2 AufenthG ein Visum – zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis, eine Niederlassungserlaubnis oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG besitzen. Außerdem müssen zusätzlich die allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels erfüllt sein (§§ 5, 29 I Nr. 2 AufenthG).

[3]a) Das Berufungsgericht hat das Nachzugsbegehren des Kl. zutreffend nach § 32 III AufenthG und nicht nach der Vorgängerregelung des § 20 III 1 AuslG geprüft ...

[4]c) Die Voraussetzungen für einen Nachzugsanspruch nach § 32 III AufenthG liegen aber entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht vor. Die gesetzliche Altersgrenze von 16 Jahren ist zwar eingehalten. Zum Zeitpunkt der Antragstellung im November 2005 hatte der Kl. das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet. Der Vater des – inzwischen volljährigen – Kl. verfügt seit 2005 auch über eine Niederlassungserlaubnis, er war aber nie allein personensorgeberechtigt.

[5]aa) Bei der Prüfung, ob ein Elternteil allein personensorgeberechtigt ist, kann allerdings nicht – wie vom Berufungsgericht angenommen – auf das deutsche Familienrecht zurückgegriffen werden. Der Begriff ist vielmehr mit Blick auf Art. 4 I lit. c der Richtlinie 2003/86/EG des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung vom 22.9.2003 (ABl. Nr. L 251/12) – sog. Familienzusammenführungsrichtlinie – gemeinschaftsrechtlich auszulegen (vgl. BVerwG, Beschl. vom 28.8.2008 – 1 C 31.07, Buchholz 402.242 § 32 AufenthG Nr. 2). Diese Richtlinie regelt den Familiennachzug zu sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen. Sie ist am 3.10.2003 in Kraft getreten (vgl. Art. 21) und war von den Mitgliedstaaten bis 3.10.2005 umzusetzen (vgl. Art. 20). Dem ist der deutsche Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern – Zuwanderungsgesetz – vom 30.7.2004 (BGBl. I 1950) und mit dem Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007 (BGBl. I 1970) nachgekommen. Da der Kl. seinen Visumsantrag im November 2005 und damit nach Ablauf der Umsetzungsfrist gestellt hat, ist die Richtlinie zwingend zu beachten.

[6]Entscheidendes Anliegen der Kindernachzugsregelung in Art. 4 I der Familienzusammenführungsrichtlinie ist das Kindeswohl (vgl. EuGH, Urt. vom 27.6.2006 – Rs. C-540/03 [Europ. Parlament/Rat der Europ. Union], Slg. 2006, I-5769 Rz. 73). Nach Art. 4 I lit. c der Richtlinie gestatten die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in Kap. IV sowie in Art. 16 genannten Bedingungen den minderjährigen Kindern des Zusammenführenden die Einreise und den Aufenthalt, wenn der Zusammenführende das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt aufkommt; die Mitgliedstaaten können die Zusammenführung in Bezug auf Kinder gestatten, für die ein geteiltes Sorgerecht besteht, sofern der andere Elternteil seine Zustimmung erteilt. Die Richtlinie differenziert mithin beim Nachzug zu einem Elternteil anknüpfend an das elterliche Sorgerecht zwischen einem strikten Nachzugsanspruch und einer im Ermessen der Mitgliedstaaten stehenden Regelungsoption. Im Wege typisierender Bewertung geht der Richtliniengeber davon aus, dass in den Fällen des Art. 4 I 1 lit. c der Richtlinie ein Nachzug des Kindes zu dem sorgeberechtigten Elternteil ohne weitere Prüfung regelmäßig dem Kindeswohl entspricht. Dabei bedarf es keiner Entscheidung, wie die weitere in der Richtlinie angeführte Voraussetzung, dass der Zusammenführende für den Unterhalt des Kindes aufkommt, auszulegen ist. Denn der deutsche Gesetzgeber hat diese Voraussetzung, sofern sie über die in der Regel notwendige künftige Sicherung des Lebensunterhalts des nachziehenden Kindes nach § 5 I Nr. 1 AufenthG hinausgehen sollte, nicht in das nationale Recht aufgenommen; hierzu war er auch nicht verpflichtet (vgl. Art. 3 V der Richtlinie). Übernommen wurde in Art. 32 III AufenthG aber die Voraussetzung, dass ein Rechtsanspruch auf Nachzug zu einem in Deutschland lebenden Elternteil nur besteht, wenn er ‚allein’ sorgeberechtigt ist.

[7]Die Richtlinie enthält keine Definition des Begriffs ‚Sorgerecht’ (zum unterschiedlichen Verständnis des Begriffs innerhalb der Mitgliedstaaten vgl. Übersicht über die Sorgerechtsregelungen in den EU-Staaten der Europäischen Kommission, Europäisches Justizielles Netz für Zivil- und Handelssachen, http://ec.europa.eu/civiljustice/parental_resp/parental_resp_net_de.htm). Anders als etwa bei der Bestimmung der Minderjährigkeit (vgl. Art. 4 I 2 der Richtlinie) verweist die Richtlinie auch nicht auf die Rechtsvorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats. Der Begriff ist daher einheitlich auszulegen. Ein Anhaltspunkt, wie der Begriff auf Gemeinschaftsebene zu verstehen ist, findet sich in Art. 2 Nr. 9 der EuEheVO in der durch die VO (EG) Nr. 2116/2004 des Rates zur Änderung der VO (EG) 2201/2003 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der VO (EG) 1347/2000 in Bezug auf die Verträge mit dem Heiligen Stuhl vom 2.12.2004 (ABl. Nr. L 367/1) geänderten Fassung (im Folgenden: EuEheVO). Danach bezeichnet der Ausdruck ‚Sorgerecht’ die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsorts des Kindes, während der Ausdruck ‚elterliche Verantwortung’ nach Art. 2 Nr. 7 EuEheVO die gesamten Rechte und Pflichten bezeichnet, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden, und außer dem Sorgerecht insbesondere auch das Umgangsrecht umfasst.

[8]Aus Art. 4 I lit. c Satz 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie ergibt sich im Umkehrschluss, dass es für einen gemeinschaftsrechtlichen Nachzugsanspruch zu einem Elternteil nicht genügt, wenn für das Kind ein ‚geteiltes’ Sorgerecht besteht. Steht das Sorgerecht nicht einem Elternteil allein zu, sondern teilen es sich die Eltern, räumt die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen Spielraum ein, der zudem unter der Prämisse steht, dass der andere Elternteil seine Zustimmung erteilt ...

[9]Im Sinne des Art. 4 I 1 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie besitzt ein Elternteil das Sorgerecht daher nur, wenn er ‚allein’ sorgeberechtigt ist, dem anderen Elternteil also bei der Ausübung des Sorgerechts keine substanziellen Mitentscheidungsrechte und -pflichten zustehen, etwa in Bezug auf Aufenthalt, Schule und Ausbildung oder Heilbehandlung des Kindes. In diesem Fall ist der Richtliniengeber davon ausgegangen, dass der Nachzug typischerweise dem Kindeswohl entspricht. Teilen sich die Eltern in für das Kind und seine weitere Entwicklung wesentlichen Angelegenheiten das Sorgerecht, gewährt die Richtlinie keinen Anspruch, sondern belässt den Mitgliedstaaten einen Spielraum. Der Richtliniengeber ist folglich bei seiner typisierenden Betrachtung davon ausgegangen, dass bei geteiltem Sorgerecht der Nachzug zu einem Elternteil auch bei Zustimmung des anderen Elternteils nicht zwangsläufig dem Kindeswohl entspricht. Diese Auslegung ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut der Richtlinie und ihrem Sinn und Zweck. Nach Auffassung des Senats handelt es sich hierbei um einen acte claire, sodass es insoweit keiner Vorlage an den EuGH bedarf.

[10]bb) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts kann nicht davon ausgegangen werden, dass dem Vater des Kl. in diesem Sinn das alleinige Sorgerecht übertragen worden ist. Wem das Sorgerecht für ein Kind zusteht, beurteilt sich nach dem Recht des Staats, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 21 EGBGB). Zum danach maßgeblichen kosovarischen Recht hat das Berufungsgericht festgestellt, dass ein Kind zwar – wie hier geschehen – einem Elternteil zur Beaufsichtigung, Sorge und Erziehung anvertraut werden kann. Auch in diesem Fall entscheiden jedoch weiterhin beide Eltern einverständlich über Angelegenheiten, die von wesentlicher Bedeutung für die Entwicklung des Kindes sind. Eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung durch ein Vormundschaftsorgan ergeht erst, wenn die Eltern sich über die ihnen gemeinsam anvertrauten Fragen nicht einigen. Die (vollständige) Entziehung der elterlichen Sorge setzt darüber hinaus voraus, dass ein Elternteil die Ausübung des Elternrechts missbraucht oder grob vernachlässigt. Diese Feststellungen binden das Revisionsgericht. Denn die Auslegung und Anwendung ausländischen Rechts ist revisionsrechtlich als Tatsachenfeststellung zu behandeln und deshalb den Tatsachengerichten vorbehalten (vgl. BVerwG, Beschl. vom 20.10.2005 – 6 B 52.05, NVwZ 2006, 1423 m.w.N.).

[11]Aus den Feststellungen ergibt sich, dass der im Kosovo lebenden Mutter des Kl. in Bezug auf die Personensorge ungeachtet der ergangenen Sorgerechtsentscheidung weiterhin substanzielle Mitentscheidungsrechte und -pflichten verblieben. Das Berufungsgericht hat zwar nicht weiter konkretisiert, welche Rechte und Pflichten in Bezug auf die Personensorge allein dem Vater des Kl. und welche weiterhin beiden Elternteilen gemeinsam zustanden. Der Feststellung, dass die Eltern über alle Angelegenheiten, die von wesentlicher Bedeutung für die Entwicklung des Kindes sind, weiterhin einvernehmlich zu entscheiden haben, ist aber zu entnehmen, dass dem Vater des Kl. nicht das alleinige Sorgerecht im Sinne von § 32 III AufenthG i.V.m. Art. 4 I lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie übertragen worden ist. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass das Berufungsgericht offengelassen hat, ob die kosovarische Sorgerechtsentscheidung einer Übertragung der alleinigen Personensorge auf einen Elternteil nach deutschem Recht gleichzustellen ist, zumal es auf diese Frage nach den obigen Ausführungen nicht ankommt.

[12]d) Dem Kl. steht entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ein Nachzugsanspruch auch nicht in entsprechender Anwendung des § 32 III AufenthG zu. Insoweit fehlt es an einer planwidrigen Regelungslücke, die der Gesetzgeber, wenn er daran gedacht hätte, entsprechend ausgefüllt hätte (vgl. BVerwG, Urt. vom 14.3. 1974 – 2 C 33.72, BVerwGE 45, 85 [90]).

Fundstellen

nur Leitsatz

FamRZ, 2009, 1323

LS und Gründe

InfAusIR, 2009, 270

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2009-82

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