PDF-Version

Verfahrensgang

BGH, Urt. vom 22.10.2009 – I ZR 88/07, IPRspr 2009-43

Rechtsgebiete

Handels- und Transportrecht → Land- und Lufttransport (bis 2019)

Leitsatz

Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte für eine auf Bestimmungen des Warschauer Internationalen Abkommens zur Vereinheitlichung von Regeln über die Beförderung im internationalen Luftverkehr vom 12.10.1929 in der Fassung des Haager Protokolls vom 28.9.1955 (BGBl. 1958 II 291) gestützte Schadensersatzklage ist auch dann gegeben, wenn der Luftfrachtvertrag sachrechtlich zwar dem WA in der Form des von der Bundesrepublik Deutschland nicht ratifizierten Protokolls von Montreal (Nr. 4 vom 25.9.1975) unterliegt, das beklagte Luftfrachtunternehmen seinen Sitz aber in Deutschland hat.

Sind die Voraussetzungen für die Anwendung der Vermutungsregel des Art. 28 IV EGBGB nicht erfüllt, weil sich in dem Staat, in dem der Beförderer seine Hauptniederlassung hat, weder der Ver- oder Entladeort noch die Hauptniederlassung des Absenders befinden, so wird das anwendbare Recht mit Hilfe der engsten Verbindung nach Art. 28 I EGBGB bestimmt. Auf die charakteristische Leistung nach Art. 28 II EGBGB kommt es bei Güterbeförderungsverträgen nicht an, da diese Vorschrift von Art. 28 IV EGBGB vollständig verdrängt wird.

Rechtsnormen

EGBGB Art. 3; EGBGB Art. 27; EGBGB Art. 28
MÜ Art. XIV
WA 1955 Art. 1; WA 1955 Art. 22; WA 1955 Art. 28; WA 1955 Art. 32
ZPO § 545

Sachverhalt

[Die vorausgegangene Entscheidung des OLG Frankfurt/Main vom 18.4.2007 – 13 U 62/06 – wurde bereits in IPRspr. 2007 Nr. 40 abgedruckt.]


Die Kl. ist Transportversicherer der B. S/A in K./Dänemark (Empfängerin). Sie nimmt die Bekl., ein deutsches Luftfrachtunternehmen mit Sitz in K., aus übergegangenem Recht der Empfängerin wegen Verlusts von Transportgut auf Schadensersatz in Anspruch. Die Empfängerin kaufte Ende April/Anfang Mai 2003 Computerbauteile von einem in I./Türkei ansässigen Unternehmen. Die Bekl. übernahm die Ware Anfang Mai 2003 in M./Italien, um sie per Luftfracht zur Empfängerin zu befördern. Das Gut ging während des Lufttransports verloren. Die Kl. zahlte deshalb an die Empfängerin den mit der Klage geltend gemachten Betrag.

Das LG hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Bekl. hat das Berufungsgericht unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels und unter Abweisung der Klage im Übrigen die Bekl. verurteilt, der Kl. einen Teilbetrag des erstinstanzlichen Schadensersatzanspruchs zu erstatten. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision erstrebt die Kl. die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils. Die Bekl. beantragt, das Rechtsmittel der Kl. zurückzuweisen.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. Die ... Revision der Kl. hat nur in geringem Umfang Erfolg. Das Berufungsgericht hat mit Recht die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte bejaht und auch zutreffend angenommen, dass auf den von der Kl. geltend gemachten Schadensersatzanspruch das WA i.d.F. des Haager Protokolls vom 28.9.1955 bzw. i.d.F. des Montrealer Zusatzprotokolls Nr. 4 vom 25.9.1977 (im Folgenden WA/HP/MP4) zur Anwendung kommt. Danach steht der Kl. eine Schadensersatzforderung in Höhe von 4 885,90 US-Dollar zu.

[2]1. Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte, die auch unter der Geltung des § 545 II ZPO in der Revisionsinstanz zu prüfen ist (vgl. BGH, Urt. vom 20.11.2008 – I ZR 70/06, TranspR 2009, 26 Tz. 17 = VersR 2009, 807 m.w.N.), ergibt sich für die gegen die in Deutschland ansässige Bekl. gerichtete Klage entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung aus Art. 28 I WA/HP.

[3]a) Nach dieser Vorschrift muss eine auf Bestimmungen des WA gestützte Schadensersatzklage in dem Gebiet eines der Hohen Vertragschließenden Teile erhoben werden. Der Kläger hat die Wahl zwischen vier Gerichtsständen, die alle auf dem Gebiet eines Vertragsstaats liegen müssen. Er kann den Luftfrachtführer u.a. dort verklagen, wo dieser seinen Wohnsitz hat. Die Bekl. hat ihren Sitz in der Bundesrepublik Deutschland, die aufgrund der Ratifizierung des WA/HP seit dem 1.8.1963 zu den Vertragsstaaten des Abkommens gehört. Danach ist gemäß Art. 28 I WA/HP die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte gegeben. Des Weiteren kann die Klage auf Schadensersatz bei dem Gericht des Bestimmungsorts erhoben werden. Das in Verlust geratene Gut sollte nach K./Dänemark befördert werden. Auch Dänemark gehört zu den Vertragsstaaten des WA/HP (siehe Koller, Transportrecht, 6. Aufl., Art. 1 WA Rz. 11). Der Abgangsort des Guts (M./Italien) wird zwar nicht in Art. 28 I WA/HP genannt, er liegt aber ebenfalls im Gebiet eines Vertragsstaats des WA/HP (siehe Koller aaO). Der Umstand, dass alle im vorliegenden Fall berührten Staaten dem WA/HP beigetreten sind, führt dazu, dass nach Art. 28 I WA/HP die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte für die Klage auf Schadensersatz gegeben ist.

[4]b) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung ist es für die Beurteilung der internationalen Zuständigkeit des angerufenen Gerichts ohne Bedeutung, dass der von der Kl. geltend gemachte Schadensersatzanspruch sachlich-rechtlich den Bestimmungen des WA/HP/MP4 unterliegt, das Deutschland nicht ratifiziert hat. Dieser Umstand führt nicht dazu, dass die Klage nur in einem Staat erhoben werden kann, der diesem Zusatzprotokoll beigetreten ist. Dem Zusatzprotokoll kommt bei der Frage, welche Gerichte international zuständig sind, keine Sperrwirkung zu, da dieses Protokoll Art. 28 I WA/HP unverändert gelassen hat. Die Gerichte eines Staats, der das Zusatzprotokoll nicht ratifiziert hat, sind nicht gehindert, auf den erhobenen Schadensersatzanspruch das WA/HP/MP4 anzuwenden (vgl. zur Anwendung taiwan. Rechts durch dt. Gerichte BGH, Urt. vom 30.10.2008 – I ZR 12/06 (IPRspr 2008-38), TranspR 2009, 130 Tz. 22).

[5]2. ... 3. Die Revision wendet sich ohne Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht auf den Schadensfall das WA/HP/MP4 angewandt und den Schadensersatzanspruch der Kl. dementsprechend gemäß Art. 22 II lit. b WA/HP auf 17 SZR je Kilogramm des verloren gegangenen Guts begrenzt hat.

[6]a) ... c) ... aa) Das auf den Streitfall anwendbare Vertragsstatut ist nach den Bestimmungen des deutschen IPR zu ermitteln. Bei Sachverhalten mit einer Verbindung zum Recht eines ausländischen Staats beurteilt sich die Frage, welche Rechtsordnungen anzuwenden sind, gemäß Art. 3 I EGBGB grundsätzlich nach den Vorschriften des EGBGB. Nach Art. 3 II EGBGB haben Regelungen in völkerrechtlichen Vereinbarungen, soweit sie unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht geworden sind, allerdings Vorrang gegenüber den Bestimmungen des EGBGB. Völkerrechtliche Verträge, die ein einheitliches Sachrecht für internationale Sachverhalte schaffen, verdrängen in ihrem sachlichen, persönlichen und zeitlichen Anwendungsbereich mithin die nationalen Kollisions- und Sachnormen (vgl. v. Hoffmann-Thorn, IPR, 9. Aufl., § 1 Rz. 65; v. Bar-Mankowski, IPR, 2. Aufl., § 2 Rz. 58, 63; Erman-Hohloch, BGB, 12. Aufl., Art. 3 EGBGB Rz. 6).

[7]In Art. XIV MP Nr. 4 ist bestimmt, dass das WA/HP/MP4 für internationale Beförderungen im Sinne des Art. 1 WA/HP gilt, sofern der Abgangs- und der Bestimmungsort in den Gebieten von zwei Vertragsstaaten dieses Protokolls liegen. Nach dieser Vorschrift unterliegt der Transport im Streitfall den Bestimmungen des WA/HP/MP4, da die Bekl. das Transportgut in Italien, einem Vertragsstaat des Montrealer Zusatzprotokolls Nr. 4, zur Beförderung nach Dänemark, das ebenfalls Vertragsstaat dieses Zusatzprotokolls ist, übernommen hatte. Einer direkten Anwendung des WA/HP/MP4 durch die deutschen Gerichte steht jedoch der Umstand entgegen, dass die Bundesrepublik Deutschland das Zusatzprotokoll nicht ratifiziert hat, sodass es nicht unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht im Sinne von Art. 3 II EGBGB geworden ist. Das auf den Streitfall anwendbare Vertragsstatut ist demzufolge gemäß Art. 3 I EGBGB nach den Vorschriften des deutschen IPR zu ermitteln.

[8]Nach Art. 28 I 1 EGBGB unterliegt ein Vertrag grundsätzlich dem Recht des Staats, mit dem er die engsten Verbindungen aufweist. Bei Güterbeförderungsverträgen wird gemäß Art. 28 IV 1 EGBGB vermutet, dass sie mit dem Staat die engsten Verbindungen aufweisen, in dem der Beförderer im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses seine Hauptniederlassung hat, sofern sich in diesem Staat auch der Ver- oder Entladeort oder die Hauptniederlassung des Absenders befindet. Die Bekl. hat ihre Hauptniederlassung zwar in der Bundesrepublik Deutschland. In diesem Staat liegen aber weder der Verlade- noch der Entladeort. Ebenso wenig hat der Absender hier seine Hauptniederlassung. Die Voraussetzungen für die Anwendung der Vermutungsregel des Art. 28 IV 1 EGBGB sind daher nicht erfüllt. Liegen die Erfordernisse des Art. 28 IV 1 EGBGB nicht vor, wird das anwendbare Recht mit Hilfe der engsten Verbindung nach Art. 28 I 1 EGBGB bestimmt. Auf die charakteristische Leistung nach Art. 28 II EGBGB kommt es bei Güterbeförderungsverträgen nicht an, da diese Vorschrift von Art. 28 IV EGBGB vollständig verdrängt wird (vgl. OLG München, TranspR 1991, 61 (IPRspr. 1990 Nr. 51); OLG Braunschweig, TranspR 1996, 385; MünchKomm-Martiny, 4. Aufl., Art. 28 EGBGB Rz. 67; Palandt-Thorn, BGB, 68. Aufl., Art. 28 EGBGB Rz. 6; Erman-Hohloch aaO Art. 28 EGBGB Rz. 25; Mankowski, TranspR 1993, 213, 224 f.; a.A. OLG Frankfurt, NJW-RR 1993, 809 (IPRspr. 1992 Nr. 66); OLG Bremen, VersR 1996, 868 (IPRspr. 1995 Nr. 49)).

[9]Das Berufungsgericht hat mit Recht angenommen, dass der streitgegenständliche Beförderungsvertrag die engsten Verbindungen im Sinne von Art. 28 I 1 EGBGB zu Italien aufweist. Die Bekl. erhielt den Beförderungsauftrag in Italien von einem italienischen Speditionsunternehmen. Der Transport sollte von Italien nach Dänemark durchgeführt werden. Schließlich wurde das Transportgut von der Bekl. in Italien übernommen, wo diese sich auch gewerblich betätigt. Da Italien Vertragsstaat des Montrealer Zusatzprotokolls Nr. 4 ist und der von den Parteien vereinbarte Bestimmungsort (K./Dänemark) ebenfalls in einem Vertragsstaat des Montrealer Zusatzprotokolls Nr. 4 liegt, kommt auf den streitgegenständlichen Beförderungsvertrag – wie bereits dargelegt – das WA/HP/MP4 zur Anwendung.

[10]bb) Entgegen der Auffassung der Revision wird die Anwendung des WA/HP/MP4 nicht durch eine von den Parteien des Beförderungsvertrags nach Art. 27 I EGBGB getroffene Rechtswahl verdrängt. Es kann offen bleiben, ob die Bekl. – wie die Revision geltend macht – den Begriff ‚Warsaw Convention’ in Nr. 1 ihrer Allgemeinen Vertragsbedingungen ausdrücklich dahingehend definiert hat, dass damit das am 12.10.1929 verabschiedete Ursprungsabkommen oder das am 28.9.1955 in Den Haag unterzeichnete Abkommen gemeint sei, je nachdem, welches Abkommen anwendbar sei. Denn eine Vereinbarung der Parteien des Luftfrachtvertrags, dass die streitgegenständliche Beförderung dem WA/HP und nicht dem WA/HP/MP4 unterliege, wäre gemäß Art. 32 Satz 1 WA/HP unwirksam. Nach dieser Vorschrift sind alle vor Eintritt des Schadens getroffenen besonderen Vereinbarungen, worin die Parteien durch Bestimmung des anzuwendenden Rechts oder durch Änderung der Vorschriften über die Zuständigkeit von dem Abkommen abweichende Regeln festsetzen, nichtig. Ein Ausschluss der Anwendung des Montrealer Zusatzprotokolls Nr. 4 würde von Art. XIV WA/HP/MP4 abweichen. Denn in dieser Vorschrift ist ausdrücklich bestimmt, dass das WA/HP/MP4 im Sinne des Art. 1 des WA/HP gilt, sofern der Abgangs- und Bestimmungsort in den Gebieten von zwei Vertragsstaaten dieses Protokolls liegen. Es widerspräche auch dem zwingenden Charakter der Abkommensvorschriften, wenn es den Vertragsparteien überlassen bliebe zu bestimmen, unter welchem Haftungsregime des WA die Luftbeförderung durchgeführt werden soll.

Fundstellen

LS und Gründe

TranspR, 2009, 479
Europ. TranspR, 2010, 211
MDR, 2010, 67
NJW-RR, 2010, 548
RIW, 2010, 74
VRS, 2010, 118, 121

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2009-43

Lizenz

Copyright (c) 2024 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht
Creative-Commons-Lizenz Dieses Werk steht unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
<% if Mpi.live? %> <% end %>