Beschließt das Insolvenzgericht in Kenntnis eines nach der EuInsVO in einem anderen Mitgliedstaat eröffneten Hauptinsolvenzverfahrens, dessen Wirkungen sich auf die im Inland belegene Masse erstrecken, die Eröffnung eines inländischen Insolvenzverfahrens, findet Art. 102 § 4 II EGInsO keine Anwendung.
Hat das Gericht eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union ein Hauptinsolvenzverfahren eröffnet, so ist, solange dieses Verfahren anhängig ist, ein bei einem inländischen Insolvenzgericht gestellter Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens unzulässig. Wird dennoch ein inländisches Insolvenzverfahren eröffnet, so ist der Beschluss zumindest schwebend unwirksam.
Ist die Eröffnung eines inländischen Insolvenzverfahrens unwirksam, so darf der nur als Scheinverwalter anzusehende Schuldner nicht über die Insolvenzmasse verfügen. Er kann jedoch eine Zwangsvollstreckung wegen vermeintlicher Masseverbindlichkeiten im Wege der Vollstreckungserinnerung abwehren.
Der High Court of Justice zu Leeds/England eröffnete auf Antrag das Hauptinsolvenzverfahren über das Vermögen der I. GmbH. Auf einen im Inland gestellten Antrag eröffnete das AG Düsseldorf das Insolvenzverfahren und ernannte den Schuldner zum Insolvenzverwalter.
Im Rahmen einer arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzung schloss der Schuldner mit dem Gl. einen Vergleich, wonach sich der Schuldner verpflichtete, einen Urlaubsabgeltungsanspruch sowie einen Gehaltsanspruch an den Kl. zu zahlen.
Das inländische Insolvenzverfahren wurde vom Rechtspfleger des Insolvenzgerichts eingestellt. Am gleichen Tag wurde durch den Insolvenzrichter ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet und der Schuldner zum Insolvenzverwalter bestellt. Nachdem der Gl. seine Forderung aus dem gerichtlichen Vergleich zur Tabelle angemeldet hatte, erklärte der Schuldner, der Vergleich bleibe für ihn wirksam.
Aufgrund der von dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des ArbG erteilten vollstreckbaren Ausfertigung des Vergleichs hat der Gl. einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss des AG Düsseldorf erwirkt. Dieser ist auf die Erinnerung des Schuldners aufgehoben worden. Die sofortige Beschwerde des Gl. hat zur Wiederherstellung des Beschlusses geführt. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Schuldner sein Begehren weiter.
[1]II. Die nach § 574 I 1 Nr. 2 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Die Vollstreckungsklausel ist von dem nicht zuständigen Urkundsbeamten der Geschäftsstelle erteilt worden. Jedenfalls sind die ausgebrachten Pfändungen aus den nachstehend (unter 3.) erörterten Gründen unzulässig ...
[2]3. In der Sache selbst ist die Vollstreckung unzulässig; deshalb hat das AG die Vollstreckungsmaßnahmen mit Recht aufgehoben.
[3]a) Das Beschwerdegericht meint, der Schuldner sei als Partei kraft Amtes die im Titel als Insolvenzverwalter der I. GmbH bezeichnete Person. Eine Parteiänderung habe durch die Einstellung des inländischen Insolvenzverfahrens und die Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens unter Berufung desselben Insolvenzverwalters nicht stattgefunden. Auch als Sekundärinsolvenzverwalter sei der Erinnerungsführer immer noch Insolvenzverwalter über das Vermögen der I. GmbH; seine Bezeichnung laute immer noch wie im Titel ausgewiesen. Mit Einstellung des inländischen Verfahrens werde das Vermögen des Schuldners vom Beschlag des ausländischen Hauptinsolvenzverfahrens und sodann des Sekundärinsolvenzverfahrens erfasst. Die vor Einstellung des deutschen Insolvenzverfahrens eingetretenen Wirkungen, also auch die vom Insolvenzverwalter vorgenommenen Rechtshandlungen, blieben im Sekundärinsolvenzverfahren erhalten. Der inländische Insolvenzverwalter bleibe weiter Partei kraft Amtes für dieselbe im Inland belegene Vermögensmasse und müsse die im Inland begründeten Masseverbindlichkeiten berichtigen. Die einmal begründete Masseforderung wandele sich nicht zur reinen Insolvenzforderung im Sekundärinsolvenzverfahren um.
[4]Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung in wichtigen Punkten nicht stand. Das Zwangsvollstreckungsverfahren richtet sich allein gegen den Schuldner in der Rechtsstellung als Verwalter in dem inländischen Insolvenzverfahren [nachfolgend b)]. Dieses Verfahren ist jedoch nicht rechtswirksam eröffnet worden [c)]. Der Schuldner als Scheinverwalter kann daher im Wege der Vollstreckungserinnerung die Unzulässigkeit der Zwangsvollstreckung geltend machen [d)].
[5]b) Gemäß § 750 I 1 ZPO kann die Zwangsvollstreckung nur gegen eine Person begonnen werden, die im Titel oder in der ihm beigefügten Vollstreckungsklausel als Schuldner bezeichnet ist. Die dort bezeichnete Person muss diejenige sein, gegen die das Vollstreckungsorgan aufgrund des Vollstreckungsantrags Zwangsmaßnahmen ergreifen soll (MünchKommZPO-Heßler, 3. Aufl., § 750 Rz. 16; Thomas-Putzo-Hüßtege, ZPO, 28. Aufl., Vorbem § 704 Rz. 11; Wieczorek-Schütze-Salzmann, ZPO, 3. Aufl., § 750 Rz. 3). Die Identität des Titelschuldners ist erforderlichenfalls im Wege der Auslegung dem Titel selbst zu entnehmen (Thomas-Putzo-Hüßtege aaO Rz. 22; vgl. ferner BGHZ 165, 223, 228). Gewährleistet wird damit, dass staatlicher Zwang nur für und gegen die im Titel genannten Personen durchgesetzt wird. Diese allgemeine Voraussetzung jeder Zwangsvollstreckung kann nicht durch materiell-rechtliche Erwägungen oder gar solche der Billigkeit außer Kraft gesetzt werden (BGH, Beschl. vom 18.7.2003 – IXa ZB 116/03, NJW-RR 2003, 1450, 1451). Für oder gegen andere als in Titel oder Klausel bezeichnete Personen darf die Zwangsvollstreckung auch dann nicht erfolgen, wenn zweifelsfrei feststeht, dass sie Gläubiger oder Schuldner sind (Zöller-Stöber, ZPO, 27. Aufl., § 750 Rz. 3).
[6]Hier richtet sich die Zwangsvollstreckung allein gegen den Schuldner als im arbeitsgerichtlichen Vergleich vom 21.1.2004 bezeichneten inländischen Insolvenzverwalter.
[7]aa) In dem Pfändungs- und Überweisungsbeschluss ist der Schuldner – ohne einen auf das Sekundärinsolvenzverfahren hindeutenden Zusatz – als Insolvenzverwalter der I. GmbH bezeichnet. Demgemäß ist auch die Erinnerung ausdrücklich im Namen des Schuldners ‚als Insolvenzverwalter des Hauptinsolvenzverfahrens über das Vermögen der I. GmbH’ eingelegt worden. Diese Parteibezeichnung ist im weiteren Verfahren beibehalten worden.
[8]bb) Die Vollstreckung gegen den Sekundärinsolvenzverwalter wäre auch unzulässig, weil sich weder der Titel noch die Vollstreckungsklausel auf ihn bezieht. Zu Unrecht hält das Beschwerdegericht den Schuldner als Sekundärinsolvenzverwalter für dieselbe Partei kraft Amtes wie als Verwalter in dem inländischen Insolvenzverfahren. Unbeschadet der Frage, ob es sich bei dem inländischen Insolvenzverfahren zugleich um ein zweites Hauptinsolvenzverfahren handelt, sind Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren grundsätzlich als unterschiedliche Verfahren anzusehen (Kemper, ZIP 2001, 1609, 1618; Staak, NZI 2004, 480; Duursma-Kepplinger, ZIP 2007, 752, 753). Zwischen der Rechtsstellung des Verwalters im Hauptinsolvenzverfahren und im Sekundärinsolvenzverfahren ist daher grundsätzlich auch in Fällen der Personenidentität zu trennen.
[9]cc) Für das vorliegende Verfahren ist es ohne Bedeutung, ob der zum inländischen Insolvenzverwalter ernannte Rechtsanwalt später in der Eigenschaft als Sekundärinsolvenzverwalter die Masseforderung bestätigt hat; denn diese materiell-rechtliche Frage ist im formalisierten Zwangsvollstreckungsverfahren nicht zu prüfen.
[10]c) Der rechtswirksamen Eröffnung eines inländischen Insolvenzverfahrens und damit der Begründung einer Masseforderung durch den Schuldner als Verwalter steht die vorherige Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens in England entgegen.
[11]aa) Gemäß Art. 16 I 1 EuInsVO wird die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch ein nach Art. 3 EuInsVO zuständiges Gericht eines Mitgliedstaats in allen übrigen Mitgliedstaaten anerkannt, sobald die Entscheidung im Staat der Verfahrenseröffnung wirksam ist. Die Eröffnung eines Verfahrens nach Art. 3 I EuInsVO entfaltet gemäß Art. 17 I EuInsVO in jedem anderen Mitgliedstaat, ohne dass es hierfür irgendwelcher Förmlichkeiten bedürfte, die Wirkungen, die das Recht des Staats der Verfahrenseröffnung beilegt, sofern die EuInsVO nichts anderes bestimmt.
[12]bb) Hat das Gericht eines anderen EU-Mitgliedstaats ein Hauptinsolvenzverfahren eröffnet, so ist, solange dieses Insolvenzverfahren anhängig ist, ein bei einem inländischen Insolvenzgericht gestellter Antrag auf Eröffnung eines solchen Verfahrens über das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen gemäß Art. 102 § 3 I 1 EGInsO unzulässig. Ein entgegen dieser Bestimmung eröffnetes Verfahren darf nach Satz 2 der Vorschrift nicht fortgesetzt werden. Es ist gemäß Art. 102 § 4 I 1 EGInsO von Amts wegen zugunsten der Gerichte des anderen EU-Mitgliedstaats einzustellen. Allerdings ist hier die Einstellung des inländischen Insolvenzverfahrens durch das AG Düsseldorf gemäß § 8 IV 1 RPflG unwirksam, weil sie durch den Rechtspfleger erfolgt ist. Die Einstellung eines Insolvenzverfahrens zugunsten der Gerichte eines anderen Mitgliedstaats nach Art. 102 § 4 EGInsO bleibt gemäß § 19a Nr. 1 RPflG dem Richter vorbehalten (Pannen-Frind, EuInsVO, 2007, Art. 102 EGInsO Rz. 1; Bassenge-Roth, RPflG, 11. Aufl., § 19a Rz. 2; Rellermeyer, Rpfleger 2003, 391, 393).
[13]cc) Nach der Bestimmung des Art. 102 § 4 II 1 EGInsO bleiben Wirkungen des Insolvenzverfahrens, die vor dessen Einstellung bereits eingetreten und nicht auf die Dauer dieses Verfahrens beschränkt sind, auch dann bestehen, wenn sie Wirkungen eines in einem anderen EU-Mitgliedstaat eröffneten Insolvenzverfahrens widersprechen, die sich nach der EuInsVO auf das Inland erstrecken. Dies gilt gemäß Art. 102 § 4 II 2 EGInsO auch für Rechtshandlungen, die während des eingestellten Verfahrens vom Insolvenzverwalter oder ihm gegenüber in Ausübung seines Amts vorgenommen worden sind.
[14](1) Im Schrifttum wird überwiegend angenommen, der deutsche Insolvenzverwalter müsse in entsprechender Anwendung des § 209 InsO im Inland begründete Masseverbindlichkeiten berichtigen (FK-InsO-Wimmer, 4. Aufl., Art. 102 § 4 EGInsO Rz. 13; Pannen/Riedemann, NZI 2004, 301, 303; Pannen-Frind aaO Rz. 7; HK-InsO-Stephan, 4. Aufl., Art. 102 § 4 EGInsO Rz. 7; Schmidt-Undritz, HmbKommInsO, 2. Aufl., Art. 102 § 4 EGInsO Rz. 2; Andres-Leithaus-Dahl, InsO, 2006, Art. 102 § 4 EGInsO Rz. 2; Paulus, EuInsVO, 2. Aufl., Art. 28 Rz. 5). Der deutsche Gesetzgeber sei frei gewesen, eine Entscheidung zugunsten der Wirkungen des eingestellten Verfahrens zu treffen, weil die EuInsVO zu dem möglichen Widerspruch zwischen den fortbestehenden Wirkungen des eingestellten Verfahrens und den nun im Inland uneingeschränkt geltenden Wirkungen des ausländischen Hauptinsolvenzverfahrens schweige und sich aus Sinn und Zweck der Verordnung nichts Gegenteiliges ergebe. Insofern müsse die Sicherheit des inländischen Rechtsverkehrs mit den Interessen des ausländischen Verfahrens in Einklang gebracht werden. Vor dem Hintergrund, dass im Inland häufig ein Sekundärinsolvenzverfahren hätte eröffnet werden können, in dem die gleichen Wirkungen eingetreten wären, widerspreche die nun gefundene Lösung nicht dem Geiste der EuInsVO (Wimmer aaO Rz. 7; i. Erg. ebenso Kübler-Prütting-Kemper, InsO, 2. Aufl., Art. 102 § 4 EGInsO Rz. 11). Die Berichtigung erfolge im Interesse der deutschen Massegläubiger, weil sie ihre Vorzugsstellung im ausländischen Verfahren (nach der dort geltenden lex fori concursus) eventuell nicht geltend machen könnten (Wimmer, Festschrift H.-P. Kirchhof, 2003, 521, 527; Pannen/Riedemann aaO). Auch wenn das eingestellte Verfahren nunmehr als Sekundärinsolvenzverfahren neu eröffnet werde, blieben die bisher verursachten Masseverbindlichkeiten gegenüber der gesamten Masse bestehen. Für die ab der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens begründeten Masseverbindlichkeiten hafte nur noch dessen Masse (Pannen-Frind aaO Rz. 6; Duursma-Kepplinger aaO 755).
[15]Abweichend davon wird vertreten, die Wirkungen des in einem anderen Mitgliedstaat früher eröffneten Verfahrens seien maßgebend, soweit sie sich nach der EuInsVO auf das Inland erstreckten. Die in Deutschland bereits eingetretenen Wirkungen blieben grundsätzlich aber zunächst selbst dann bestehen, wenn das ausländische Insolvenzrecht diese Wirkungen nicht kenne oder eine dem deutschen Recht widersprechende Wirkung vorsehe. Es werde Aufgabe der nach dem Recht des ausländischen Insolvenzverfahrens zuständigen Organe sein, die Wirkungen zu harmonisieren und dabei zu entscheiden, welche Maßnahmen nach dem anwendbaren Recht aufzuheben seien (Nerlich-Römermann-Mincke, InsO, 14. Aufl., Art. 102 § 4 EGInsO Rz. 4).
[16](2) Soweit ersichtlich bezweifelt nur Weller (IPRax 2004, 412, 417), ob die bis zur Einstellung vorgenommenen Rechtshandlungen gemäß Art. 102 § 4 II EGInsO wirksam bleiben können. Das deutsche Gesetz gehe offenbar von der möglicherweise europarechtswidrigen Annahme aus, ein zweites, im Inland eröffnetes Hauptinsolvenzverfahren vermöge trotz des Verstoßes gegen das Prioritätsprinzip eine Sperrwirkung in Bezug auf das ausländische Hauptinsolvenzverfahren zu entwickeln, die erst mit Einstellung ex nunc entfalle. Da der zeitlich früher erlassene Eröffnungsbeschluss kraft Anwendungsvorrangs des Europarechts universelle Beschlagswirkung über das gesamte Schuldnervermögen entfalte, bleibe jedoch keine Masse übrig, hinsichtlich derer dem zweiten Hauptinsolvenzverwalter durch nationales Recht eine Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis eingeräumt werden könnte. Daher könne der zweite Insolvenzverwalter auch im Zeitraum zwischen Eröffnung und Einstellung des zweiten Hauptinsolvenzverfahrens nicht als Berechtigter für die Masse handeln oder verfügen.
[17](3) Nach Auffassung des Senats kann jedenfalls in Fällen, in denen – wie hier – das zweite Insolvenzverfahren im Inland nicht irrtümlich, sondern in Kenntnis des ersten Hauptinsolvenzverfahrens im Ausland eröffnet worden ist, Art. 102 § 4 II EGInsO keine Anwendung finden. Diese Einschränkung ergibt sich nicht aus dem Wortlaut, folgt aber aus dem Anwendungsvorrang des EG-Rechts und den Gesetzesmaterialien zu Art. 102 EGInsO.
[18]Art. 102 § 4 EGInsO wurde durch das Gesetz zur Neuregelung des Internationalen Insolvenzrechts vom 14.3.2003 (BGBl I 2003, 345) mit Wirkung vom 20.3.2003 eingefügt, weil der Gesetzgeber es als klärungsbedürftig ansah, wie die Wirkungen des ausländischen Verfahrens, die sich nach Wegfall der Sperrwirkung des Inlandsinsolvenzverfahrens auch auf das inländische Vermögen erstreckten, mit den Wirkungen des eingestellten Verfahrens zu harmonisieren seien. Ein solches Regelungsbedürfnis bestehe auch für Rechtshandlungen des inländischen Insolvenzverwalters, die dieser bis zur Einstellung des Verfahrens vorgenommen habe (BT-Drucks. 15/16 S. 15).
[19]Aufgrund der unmittelbar geltenden Verordnung und des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts können einem unter Verstoß gegen die EuInsVO eröffneten zweiten Insolvenzverfahren keine Rechtswirkungen beigemessen werden, die die inländische, vom ersten Hauptinsolvenzverfahren umfasste Masse betreffen und den Grundgedanken der EuInsVO zuwiderlaufen.
[20]Die der Einfügung des Art. 102 § 4 II EGInsO zugrunde liegende Annahme, das inländische Insolvenzverfahren könnte gegenüber dem zuvor in einem anderen Mitgliedstaat eröffneten Hauptinsolvenzverfahren Sperrwirkungen entfalten, lässt die Rechtswirkungen des Art. 17 I EuInsVO außer Betracht. Nach dieser Vorschrift belegt das in einem anderen Mitgliedstaat früher eröffnete Hauptinsolvenzverfahren die inländische Masse mit einer Sperrwirkung. Die universale Geltung des Hauptinsolvenzverfahrens und die Befugnis des vom zuerst befassten Gericht bestellten vorläufigen Insolvenzverwalters, Maßnahmen zur Sicherung und Erhaltung von Schuldnervermögen, das sich in einem anderen Mitgliedstaat befindet, zu beantragen, stellen bedeutsame Garantien dar, die den maximalen Zugriff auf das Vermögen des Schuldners ermöglichen (EuGH, ZIP 2006, 188, 189 Rz. 28).
[21]Die EuInsVO geht davon aus, dass es nur ein einziges Hauptinsolvenzverfahren gibt (EuGH, ZIP 2006, 907, 910 Rz. 52); sie enthält keine ausdrückliche Regelung, wie im Falle der Eröffnung mehrerer Hauptinsolvenzverfahren mit kollidierenden universellen Wirkungsansprüchen zu verfahren ist (Virgos/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren, Rz. 79, abgedr. in Stoll, Vorschläge und Gutachten zur Umsetzung des EU-Übereinkommens über Insolvenzverfahren im deutschen Recht, 1997, 32, 63; W. Lüke, ZZP 111 (1998), 275, 289; Leible/Staudinger, KTS 2000, 533, 545; Smid, DZWIR 2003, 397, 401). Allerdings liegt Art. 3 I, 16 I EuInsVO das Prioritätsprinzip zugrunde, wonach dasjenige Verfahren als Hauptinsolvenzverfahren anzuerkennen ist, das als Erstes eröffnet wurde (EuGH, ZIP 2006, 907, 909 Rz. 38, 39 und 49; MünchKommInsO-Reinhart, 1. Aufl., Art. 102 EGInsO Anh I Art. 3 EuInsVO Rz. 3; Huber, ZZP 114 (2001), 133, 144 f.). Dementsprechend soll sich die Anerkennung der Entscheidungen der Gerichte der Mitgliedstaaten nach Nr. 22 Satz 3 der Erwägungsgründe zur EuInsVO auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens stützen. Weiter soll nach Satz 6 dieses Erwägungsgrunds die Entscheidung des zuerst eröffnenden Gerichts in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden; diese sollen die Entscheidung dieses Gerichts keiner Überprüfung unterziehen dürfen. Die universellen Beschlagswirkungen des ersten Beschlusses gemäß Art. 17 EuInsVO entziehen das Vermögen des Schuldners einer weiteren Verfahrenseröffnung mit universalistischem Anspruch. Ein zweiter Beschluss eines anderen Gerichts ist insoweit zumindest schwebend unwirksam und kann allenfalls bei Aufhebung des zunächst ergangenen Eröffnungsbeschlusses Wirkung zeigen (W. Lüke aaO 290; Smid aaO; i. Erg. ebenso Staak, Der deutsche Insolvenzverwalter im europäischen Insolvenzrecht, 2004, 25 f.). Der Grundsatz der Wirkungserstreckung gilt solange, als im Anerkennungsstaat kein Partikularverfahren nach Art. 3 II EuInsVO eröffnet worden ist (Huber aaO 147). Gegenstand der Anerkennung gemäß Art. 17 I EuInsVO ist die Gestaltungswirkung des Eröffnungsbeschlusses, d.h. die Unterwerfung des Schuldnervermögens unter die Sachvorschriften des Insolvenzrechts (MünchKommInsO-Reinhart aaO Art. 17 EuInsVO Rz. 1). Im Hauptinsolvenzverfahren regelt gemäß Art. 4 II 2 litt. b, f und g EuInsVO das Recht des Staats der Verfahrenseröffnung, welche Vermögenswerte zur Masse gehören (lit. b), wie sich das Insolvenzverfahren auf Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger auswirkt (lit. f) und welche Forderungen als Insolvenzforderungen anzumelden sind (lit. g). Die Aktivmasse des Hauptverfahrens erfasst demnach grundsätzlich sämtliche innerhalb der Gemeinschaft belegenen Vermögenswerte des Schuldners (Duursma-Kepplinger aaO 753).
[22]Die Berichtigung von Forderungen im Interesse inländischer Massegläubiger im Sinne des § 55 InsO, die ihre Vorzugstellung im anderen Mitgliedstaat nicht geltend machen könnten, findet in der Verordnung keine Stütze. Vielmehr regelt das nach Art. 4 II EuInsVO anzuwendende Recht des Staats der Verfahrenseröffnung, d.h. hier englisches Konkursrecht, die Berichtigung der Insolvenzforderungen einschließlich der Behandlung von Masseforderungen (Pannen/Riedemann in Pannen aaO Art. 4 EuInsVO Rz. 58; Paulus aaO Art. 4 Rz. 30). Daran ändert nichts der Umstand, dass auf ein später eröffnetes Sekundärinsolvenzverfahren in Deutschland gemäß Art. 28 EuInsVO deutsches Insolvenzrecht anzuwenden ist.
[23]Falls zwischen dem unmittelbar anwendbaren Recht der EU und dem nationalen deutschen Recht – wie hier – ein Widerspruch auftritt, kommt dem EG-Recht nach Art. 24 I GG ein Anwendungsvorrang zu (BVerfGE 73, 339, 375; 75, 223, 244; 85, 191, 204; BGHZ 173, 103 112 Rz. 27).
[24](4) Darüber hinaus ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien zu Art. 102 § 4 EGInsO, dass die Vorschrift der Ausführungsbestimmung des § 3 des Ausführungsgesetzes zum deutsch-österreichischen Konkursvertrags vom 8.3.1985 (BGBl. I 535; fortan: DöKVAG) nachgebildet worden ist (BT-Drucks. 15/16 S. 15). Indessen beruht § 3 DöKVAG auf einer mit Art. 102 EGInsO nicht zu vergleichenden Rechtslage.
[25]Nach § 3 II 1 DöKVAG bleiben Wirkungen des Konkursverfahrens, die vor dessen Einstellung bereits eingetreten und nicht auf die Dauer des Verfahrens beschränkt sind, auch dann bestehen, wenn sie Wirkungen eines in Österreich eröffneten Konkurses widersprechen, die sich nach Maßgabe der Bestimmungen des Vertrags vom 25.5.1979 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich auf dem Gebiet des Konkurs- und Vergleichs-(Ausgleichs-)rechts (BGBl. 1985 II 410; fortan: deutsch-österreichischer Konkursvertrag) auf den Geltungsbereich des Ausführungsgesetzes erstrecken. Nach Satz 2 gilt das Gleiche für Rechtshandlungen, die der Konkursverwalter in Ausübung seines Verwaltungs- und Verfügungsrechts während des eingestellten Verfahrens vorgenommen hatte. Im Rahmen des deutsch-österreichischen Konkursvertrags sollte, wie aus dem Gemeinsamen Bericht der Verhandlungsdelegationen (abgedr. bei Arnold, Der deutsch-österreichische Konkursvertrag, 1987, 48) hervorgeht, sich nach innerstaatlichem Recht der Vertragsstaaten bestimmen, wie ein Konkursverfahren zu beenden ist, das wegen Fehlens der internationalen Zuständigkeit nicht mehr fortgesetzt werden darf. Dem innerstaatlichen Gesetzgeber blieb es überlassen festzulegen, ob die Wirkungen des unzulässigen Konkursverfahrens mit rückwirkender Kraft oder nur für die Zukunft entfallen sollten (BT-Drucks. 10/1628, S. 11).
[26]Einen solchen Regelungsspielraum für den nationalen Gesetzgeber sieht die EuInsVO nicht vor. Diese dient vielmehr dazu, im Interesse der Gläubigergleichbehandlung in allen Mitgliedstaaten die Vermögenswerte des Schuldners denselben Regeln zu unterwerfen (Kemper aaO 1610). Dementsprechend hat nach dem Erwägungsgrund Nr. 12 Satz 2 zur EuInsVO das Hauptinsolvenzverfahren universale Geltung mit dem Ziel, das gesamte Vermögen des Schuldners zu erfassen; nach Satz 6 dieses Erwägungsgrunds tragen zwingende Vorschriften für die Koordinierung mit dem Hauptinsolvenzverfahren dem Gebot der Einheitlichkeit des Verfahrens in der Gemeinschaft Rechnung. Folgerichtig wirkt nach Art. 17 I EuInsVO die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens in einem Mitgliedstaat unmittelbar auch für die im Inland belegene Masse.
[27]Hinzu kommt, dass auch § 3 DöKVAG nur für ein infolge eines Irrtums, etwa in Unkenntnis von dem Verfahren im anderen Staat, eröffnetes Verfahren geschaffen worden ist (BT-Drucks. 10/1628 S. 11). Damit ist der Fall, dass die inländischen Gerichte sich bewusst über ein in einem anderen Mitgliedstaat eröffnetes Verfahren hinwegsetzen und ein weiteres Insolvenzverfahren im Inland eröffnen, nicht zu vergleichen. Hier hatte das AG, wie aus dem Beschluss vom 6.6.2003 hervorgeht, noch vor dem Eröffnungsbeschluss Kenntnis von dem bereits am 19.5.2003 in England eröffneten Hauptinsolvenzverfahren; es hat allerdings zu Unrecht und ohne nachvollziehbare Begründung angenommen, das englische Gericht habe die Vorschriften der EuInsVO weder erwähnt noch beachtet.