PDF-Version

Verfahrensgang

OLG Schleswig, Beschl. vom 19.05.2008 – 12 UF 203/07, IPRspr 2008-184

Rechtsgebiete

Anerkennung und Vollstreckung → Ehe- und Kindschaftssachen

Leitsatz

Ist eine ausländische (hier: italienische) Entscheidung über die elterliche Verantwortung ergangen, ohne dass das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, so verstößt dies gegen wesentliche verfahrensrechtliche Grundsätze des deutschen Rechts. Einer solchen Entscheidung ist daher die Anerkennug zu versagen.

Zur „Anhörungsmöglichkeit“ im Sinne des Art. 23 lit. b EuEheVO reicht eine Ladung des Kindes über dessen Mutter nicht aus, wenn diese sich weigert, mit dem Kind zum ausländischen Anhörungstermin zu reisen, und angesichts des jungen Alters des Kindes nicht ersichtlich ist, wie es ohne oder gegen den Willen seiner Mutter zu dem Termin reisen sollte.

Rechtsnormen

EuEheVO 2201/2003 Art. 23; EuEheVO 2201/2003 Art. 28; EuEheVO 2201/2003 Art. 41; EuEheVO 2201/2003 Art. 42
FGG § 50b
GG Art. 1; GG Art. 2; GG Art. 6; GG Art. 103
IntFamRVG § 24; IntFamRVG § 32

Sachverhalt

Die Parteien, die nicht miteinander verheiratet waren, aber neun Jahre lang in Italien zusammen eine nichteheliche Lebensgemeinschaft geführt haben, sind die seit September 2004 getrennt lebenden Eltern der Kinder E. P. und R. P., die beide die italienische Staatsangehörigkeit haben. Die AGg. ist seit 2005 verheiratet mit dem deutschen Staatsangehörigen J. S. und hat mit diesem eine Tochter.

Nach ihrer Trennung regelten die Parteien ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie ihre Beziehungen zu den beiden gemeinsamen Kindern in einem privatschriftlichen Dokument; die AGg. erhielt bei einem gleichzeitigen umfassenden Umgangsrecht des ASt. das alleinige Sorgerecht für beide Kinder.

In der Folge beantragte die AGg. nach einer Gesetzesänderung im italienischen Recht beim Jugendgericht Mailand die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf sich sowie die Einschränkung des vereinbarten Umgangsrechts des ASt. Mit Erlaubnis des Vormundschaftsgerichts in L. verließ die AGg. mit allen drei Kindern Italien in Richtung Deutschland, wo sie seitdem lebt.

Das Jugendgericht Mailand übertrug daraufhin durch vorläufige Verfügung mit sofortiger Wirkung die Ausübung der elterlichen Sorge auf den ASt. und gab der AGg. auf, die gemeinsamen Kinder der Parteien sofort nach Italien zurückzubringen, was nicht geschah.

Nachdem das AG Celle dem Antrag des ASt. auf sofortige Rückführung der Kinder stattgegeben hatte, hob das OLG Celle die erstinstanzliche Entscheidung auf und wies den Antrag des ASt. zurück.

Das AG Meppen stellte aufgrund eines entsprechenden Antrags der AGg. deren alleinige elterliche Sorge bzgl. der beiden gemeinsamen Kinder fest; diesen Beschluss hob das OLG Oldenburg auf und gab die Sache an das zuständige AG Schleswig ab.

Das Jugendgericht Mailand bestätigte derweil seine vorläufige Entscheidung in der Hauptsache. Gegen diesen Beschluss legte die AGg. Beschwerde ein, über die noch nicht entschieden ist.

Das AG Schleswig hat im angefochtenen Beschluss den Antrag des ASt. auf Anerkennung und Vollstreckung der Hauptsacheentscheidung des Jugendgerichts Mailand als unbegründet zurückgewiesen. Gegen diesen Beschluss wendet sich der ASt. mit seiner Beschwerde.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. Die Beschwerde des ASt. ist zwar zulässig, insbesondere fristgemäß eingelegt (§§ 32, 24 IntFamRVG), aber unbegründet.

[2]1. Mit Recht hat das FamG den Antrag des ASt. auf Anerkennung der Hauptsacheentscheidung des Jugendgerichts Mailand vom 2.11.2007 unter Berufung auf Art. 23 lit. b EuEheVO als unbegründet abgelehnt.

[3]Nach dieser Vorschrift wird eine Entscheidung über die elterliche Verantwortung nicht anerkannt, wenn die Entscheidung – ausgenommen in dringenden Fällen – ergangen ist, ohne dass das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, und damit wesentliche verfahrensrechtliche Grundsätze des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung beantragt wird, verletzt werden.

[4]a) Zutreffend ist zwar, wie sich aus der eingereichten Ladungsverfügung und den Gründen des angefochtenen Beschlusses ergibt, dass das Jugendgericht Mailand mit Verfügung vom 23.7.2007 sowohl beide Parteien als auch die betroffenen Kinder zur Anhörung zum Termin am 17.9.2007 geladen hat und dass weder die AGg. noch die Kinder erschienen sind.

[5]Damit hatten die Kinder aber nicht die in Art. 23 lit. b EuEheVO vorausgesetzte Anhörungsmöglichkeit. Zunächst stellt die Formulierung ‚die Möglichkeit’ nur klar, dass eine Äußerung des Kindes nicht erzwungen werden kann, stellt die Anhörung aber nicht in das Ermessen des Gerichts. Dies folgt aus dem Hinweis in Kapitel IX des ‚Leitfaden der Europäischen Kommission zur Anwendung der neuen Verordnung Brüssel II’ , dass die Verordnung ‚unumstößlich’ festlege, dass ein Kind in es betreffenden Verfahren gehört werden müsse (ebenda 53 f.), aber auch aus Erwägungsgrund 19 der EuEheVO, der betont, dass die Anhörung des Kindes bei der Anwendung der Verordnung eine wichtige Rolle spiele.

[6]Das Jugendgericht Mailand hat die betroffenen Kinder weder angehört noch ihnen eine ‚echte’ Möglichkeit der Anhörung gegeben. Dazu reichte die Ladung zum Termin am 17.9.2007 über die AGg. als Kindesmutter nicht. Der ASt. trägt selbst vor, dass die AGg. nach ihrem Umzug nach Deutschland am Verfahren in Mailand kein Interesse mehr gehabt und sich geweigert habe, mit den Kindern nach Italien zu reisen. Berücksichtigt man weiter, dass die beiden Kinder zum damaligen Zeitpunkt gerade einmal knapp zehn bzw. knapp sechs Jahre alt waren, ist nicht ersichtlich, wie sie ohne oder gegen den Willen der AGg. als ihrer Mutter nach Mailand reisen sollten, zumal die Gefahr bestand, dass sie Italien aufgrund der vorliegenden vorläufigen Entscheidung des Jugendgerichts Mailand vom 30.1.2007 aufgrund einer entsprechenden Weisung des ASt. nicht mehr hätten verlassen können.

[7]Um den Kindern tatsächlich eine Anhörung zu ermöglichen, hätten dem Jugendgericht Mailand unter diesen Umständen weitere Maßnahmen oblegen und auch zur Verfügung gestanden. Insoweit wäre es in Betracht gekommen, den Kindern ‚sicheres Geleit’ einzuräumen, um die Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung in Mailand zu geben. Wegen der – unterstellt – unwilligen AGg. hätte auch eine Vertrauensperson für die Kinder (nach deutschem Recht ein Verfahrenspfleger) bestellt werden können, der nicht nur den Kindeswillen in Erfahrung hätte bringen, sondern auch die Kinder nach Mailand hätte begleiten können. Jedenfalls aber hätte das Jugendgericht Mailand zur Einräumung einer ‚echten’ Anhörungsmöglichkeit eine Anhörung im Wege der Rechtshilfe vor einem deutschen Gericht veranlassen können und müssen, um der Anhörungspflicht nach Art. 23 lit b EuEheVO Genüge zu tun. Dies war auch nicht von vornherein aussichtslos, da die AGg. im HKindEntÜ-Verfahren in erster Instanz die gerichtliche Anhörung der Kinder am 16.2.2007 ermöglicht hat.

[8]b) Die Anhörung war auch nicht aus anderem Grund entbehrlich.

[9]Zunächst handelte es sich bei der streitgegenständlichen Hauptsacheentscheidung unstreitig nicht um einen dringenden Fall im Sinne von Art. 23 lit. b EuEheVO.

[10]Da Art. 23 lit. b EuEheVO ein Anhörungsrecht der betroffenen Kinder regelt, hat das FamG mit Recht darauf hingewiesen, dass der Umstand, dass die AGg. dieses Verfahrens Antragstellerin im Verfahren vor dem Jugendgericht Mailand war, den Anhörungsmangel nicht heilen kann. Würde man der gegenteiligen Argumentation des ASt. folgen, wäre in dieser Fallkonstellation eine Anhörung der Kinder stets entbehrlich, was nicht ernstlich vertreten werden kann.

[11]Dahinstehen kann, ob die Einschränkung der Art. 41 II, 42 II EuEheVO – eine Anhörung erschien aufgrund Alters/Reifegrads des Kindes unangebracht – auf Art. 23 lit. b EuEheVO entsprechend anzuwenden ist, wogegen der einschränkungslose Wortlaut des Art. 23 lit. b spricht. Dass eine Anhörung der Kinder aufgrund Alters/Reifegrads unangebracht gewesen wäre, ist nicht ersichtlich und wird auch vom ASt. nicht behauptet; auch das Jugendgericht Mailand ist davon offensichtlich nicht ausgegangen, da es die Kinder zum Termin am 17.9.2007 geladen hat.

[12]Entgegen der Auffassung des ASt. konnte auf die Anhörung der Kinder auch nicht deshalb verzichtet werden, weil sie bereits angehört worden waren. Zunächst ergibt sich aus den eingereichten umfangreichen Unterlagen nicht, dass die Kinder bereits mehrfach in Deutschland angehört worden waren, sondern nur eine Anhörung am 16.2.2007 durch das AG Celle im HKindEntÜ-Verfahren. Diese Anhörung lässt den Versagungsgrund des Art. 23 lit. b EuEheVO aber nicht entfallen, da sie zum einen bereits mehr als ein halbes Jahr zurücklag und außerdem einen abweichenden Verfahrensgegenstand betraf.

[13]c) Durch die fehlende Anhörung sind schließlich auch wesentliche verfahrensrechtliche Grundsätze des deutschen Rechts verletzt worden. Nach § 50b I FGG hat das Gericht in Verfahren, die die Personensorge betreffen, das Kind grundsätzlich persönlich anzuhören; nach Abs. 3 dieser Vorschrift darf das Gericht von der Anhörung nur aus schwerwiegenden Gründen absehen. Die deutsche Rechtsprechung legt diese Vorschrift dahin aus, dass jedenfalls Kinder ab drei, spätestens vier Jahren regelmäßig anzuhören sind. Die Kindesanhörung ist im deutschen Recht ein wesentlicher Verfahrensgrundsatz mit Verfassungsrang (st. Rspr. seit BVerfGE 55, 171 = FamRZ 1981, 124). Dies folgt aus dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG) und der Subjektstellung des Kindes als Träger eigener Grundrechte, darunter insbesondere der Menschenwürde (Art. 1 I GG) und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 I GG), sowie daraus, dass das Grundrecht des Art. 6 II GG aufgrund seiner Ausstrahlungswirkung Einfluss auf die Gestaltung kindschaftsrechtlicher Verfahren hat.

[14]2. Der Antrag auf Vollstreckung ist ebenfalls unbegründet, da es an der Anerkennung der Entscheidung des Jugendgerichts Mailand fehlt, die Voraussetzung für die Vollstreckbarerklärung nach Art. 28 bzw. die direkte Vollstreckung nach Art. 42 EuEheVO ist. Zudem hätte der ASt. auch nicht die für eine Vollstreckung nach Art. 42 I 1, II erforderliche Bescheinigung des Jugendgerichts Mailand vorgelegt.

Fundstellen

LS und Gründe

FamRZ, 2008, 1761

nur Leitsatz

FF, 2008, 471

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2008-184

Lizenz

Copyright (c) 2024 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht
Creative-Commons-Lizenz Dieses Werk steht unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.