Wechselt ein Elternteil, der das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind hat, seinen Wohnort und den des Kindes innerhalb der Staaten der Europäischen Gemeinschaft (hier: von Deutschland nach England) gegen den Willen des im Übrigen mitsorgeberechtigten Elternteils, so ist dies nicht widerrechtlich im Sinne von Art. 3 HKiEntÜ, wenn der andere Elternteil seine Mitsorge auch von seinem Heimatland (hier: von Deutschland) aus in zureichendem Maße ausüben kann.
J. W., Je. W. und Ju. W. sind die gemeinsamen Kinder der Parteien. Deren Ehe ist geschieden. Die Parteien haben die elterliche Sorge für die Kinder gemeinsam inne. Durch Beschluss des AG Betzdorf wurde jedoch das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder auf die AGg. allein übertragen. Der ASt. hat ein Umgangsrecht am Wochenende alle 14 Tage und jeweils in der ersten Hälfte der Schulferien.
Ohne den ASt. hierüber zu unterrichten, übersiedelte die AGg. mit den Kindern und ihrem heutigen Ehemann nach England. Nachdem er über ein Strafverfahren die Adresse der AGg. erfahren hatte, leitete der Kindesvater bei dem BfJ, Zentrale Behörde, zur Rückführung der Kinder einen Antrag nach dem HKiEntÜ ein. Dieses Verfahren steht vor dem High Court of Justice zur Entscheidung an. Dieser hat dem ASt. aufgegeben, eine Widerrechtlichkeitsbescheinigung nach Art. 15 HKiEntÜ beizubringen.
Das FamG hat die Widerrechtlichkeit des Verbringens der Kinder nach Großbritannien gemäß Art. 3 I HKiEntÜ festgestellt.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der AGg.
[1]II. 1. Die nach § 24 I IntFamRVG statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde der AGg. ist begründet. Die Verbringung der Kinder nach Großbritannien war nicht widerrechtlich im Sinne von Art. 3 I HKiEntÜ.
[2]Nach §§ 1626, 1627 BGB haben hier beide Eltern die elterliche Sorge in gemeinsamer elterlicher Verantwortung. Diese umfasst die Personensorge und die Vermögenssorge. Bei Meinungsverschiedenheiten müssen die Eltern versuchen, sich zu einigen (§ 1626 BGB). Hieran ändert die Trennung der Eltern im August 2002 und die Scheidung ihrer Ehe im Jahr 2003 nichts. Jedoch wurde der AGg. das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder allein übertragen. Dieses Recht betrifft die Bestimmung des Wohnorts und der Wohnung der Kinder. Diese darf die AGg. frei und ohne vorherige Einigung mit dem ASt. festlegen. So unterliegt es keinem Zweifel, dass ein Elternteil, der das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ein Kind hat, ohne Zustimmung des anderen Elternteils mit dem Kind den Wohnsitz von Süddeutschland nach Norddeutschland verlegen darf, obwohl der neue Wohnort mehrere 100 km entfernt von dem früheren Wohnort liegt und der Wohnortwechsel einschneidende Folgen für den regelmäßigen Umgang des Kindes mit dem anderen Elternteil hat. Zwar kann die Entscheidung des Elternteils, den Wohnort des Kindes zu ändern, im Einzelfall Anlass sein, die Anordnung der Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts zu überdenken (§ 1696 I BGB). Solange die Bestimmung des Aufenthalts jedoch einem Elternteil allein obliegt, kann dieser auch allein entscheiden.
[3]Im vorliegenden Fall ist die rechtliche Befugnis der AGg. durch den Beschluss des AG Betzdorf vom 29.10.2003, wonach ihr das Aufenthaltsbestimmungsrecht allein übertragen wurde, nicht eingeschränk,t wie der ASt. geltend macht. Dem Beschluss kann eine Verpflichtung der Kindesmutter, ihren damaligen Wohnort nicht zu wechseln, nicht entnommen werden. Das Gericht spricht das Aufenthaltsbestimmungsrecht vielmehr der ‚Hauptbezugsperson’ der Kinder zu. Das war hier die Mutter. Die zusätzliche Erwägung der Richterin, den Kindern solle auch ihr bisheriges Umfeld erhalten bleiben, ist keine Einschränkung des Aufenthaltsbestimmungsrechts. Genauso wie ein Umzug von Süd- nach Norddeutschland ist der AGg. ein Umzug von Deutschland nach England mit den Kindern gestattet. Diese Entscheidung ist von ihrem Aufenthaltsbestimmungsrecht umfasst, selbst wenn dem Kindesvater nicht der neue Aufenthaltsort der Kinder mitgeteilt wird. Die AGg. musste hierfür nicht zunächst eine familiengerichtliche Genehmigung oder das Einverständnis des ASt. einholen.
[4]Vor diesem Hintergrund kann nicht festgestellt werden, dass die Verbringung der Kinder nach England widerrechtlich im Sinne des Art. 3 HKiEntÜ ist.
[5]Zwar steht den Parteien die Sorge für die Kinder gemeinsam zu. Auch hat der Kindesvater die gemeinsame Sorge tatsächlich ausgeübt (Art. 3 lit. b HKiEntÜ). Denn an die tatsächliche Ausübung des (Mit)Sorgerechts werden keine großen Anforderungen gestellt. Es ist ausreichend, wenn der getrennt lebende Elternteil sein Mitsorgerecht dadurch ausübt, dass er den Umgang mit seinen bei dem anderen Elternteil lebenden Kindern pflegt (vgl. OLG Dresden, FamRZ 2003, 468 (IPRspr. 2002 Nr. 102); OLG Hamm, FamRZ 2004, 723 (IPRspr. 2003 Nr. 92); Staudinger-Pirrung, 1994, Vorbem. zu Art. 19 EGBGB Rz. 644, a.A.: OLG Düsseldorf, FamRZ 1994, 181 (IPRspr. 1993 Nr. 96)). Die AGg. hat auch nicht geltend gemacht, dass der Kindesvater sein Mitsorgerecht nicht ausübt.
[6]Über den Aufenthalt der Kinder entscheidet die Kindesmutter aber allein. Auch die gebotene, an den Zielen des Übereinkommens orientierte Auslegung des Begriffs der Widerrechtlichkeit in Art. 3 lit. a HKiEntÜ führt nicht zu einer anderen Wertung (Staudinger-Pirrung aaO Rz. 642). In einem Recht, den Aufenthalt der Kinder mit zu bestimmen, kann der Kindesvater nicht verletzt sein, weil er ein solches Recht nicht hat (vgl. OGH, Entsch. vom 8.6.1999 – 1 Ob 147/99 w, ZfRV 1999, 231). Soweit mittelbar sein Umgang mit seinen Kindern durch den Wegzug erschwert wurde, kann hierauf eine Rückführung nach Art. 12 I, 3 HKiEntÜ nicht gestützt werden. Die Umgangsrechte schützt das Übereinkommen allein durch Art. 21 (vgl. OLG Stuttgart, FamRZ 2001, 645 (IPRspr. 2000 Nr. 91)).
[7]Der Senat ist der Auffassung, dass dem Kindesvater die Wahrnehmung der übrigen Teilbereiche der elterlichen Personensorge, die er zusammen mit der AGg. ausübt, nicht unzumutbar durch die Übersiedlung der Kinder nach Großbritannien in einem solchen Maße erschwert sind, dass sich damit die Überbringung der Kinder als widerrechtlich im Sinne des Übereinkommens darstellt. In dem Zusammenhang ist es nicht von entscheidender Bedeutung, dass es dem Kindesvater rund zwei Monate nicht möglich war, an der Sorge für die Kinder teilzuhaben, weil er ihre neue Adresse nicht sogleich erfuhr. Maßgeblich ist nach Auffassung des Senats die Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung, wenn durch eine Veränderung der Sachlage in diesem Zeitpunkt Rechte des Kindes oder des anderen Elternteils nicht mehr verletzt sind (vgl. Baetke, IPRax 2000, 146, 147, Bespr. zu OGH IPRax 2000, 141; a.A. Bach-Gildenast, Internationale Kindesentführung, 1999, Rz. 53; MünchKomm-Siehr, 4. Aufl., Anh. II Int. PrivatR Art. 21 Rz. 39). Die Rückführung des Kindes nach dem Abkommen ist kein Selbstzweck und soll nicht eine Bestrafung für den verbringenden Elternteil sein. Wenn deshalb im Zeitpunkt der Entscheidung beide Eltern die Rechte, die sie auch im Ausgangsstaat innehatten, ausüben können, kann eine rechtswidrige Verbringung nicht mehr festgestellt werden.
[8]In der Sache geht es um die Mitentscheidung über die wesentlichen Aspekte der Erziehung (z.B. Religion, Entscheidung über eine weiterführende Schule usw.), aber auch um das gesundheitliche Wohl der Kinder. Die Möglichkeit, diese Rechte auszuüben, wird durch den neuen Aufenthaltsort der Kinder nicht wesentlich geschmälert. Zwar kann der Vater das Wohlergehen seiner Kinder nicht mehr durch Augenschein so häufig überprüfen wie vor dem Wechsel. Auch können Sprachprobleme eine Rolle spielen, wenn der Vater sich Informationen über die Kinder bei Dritten einholen will (z.B. bei der Schule). Jedoch kann der Vater weiter seine Rechte ausüben. Es kann keine Rede davon sein, dass diese für ihn nur noch formal bestehen, er aber tatsächlich an ihrer Ausübung gehindert ist. Es darf nicht aus dem Blick geraten, dass die Mutter mit den Kindern in ein anderes EG-Land übergesiedelt ist. Der Kindesvater genießt dort Freizügigkeit. Die Rechtssysteme der Staaten der Gemeinschaft und die dortigen Lebensverhältnisse sind nicht gravierend unterschiedlich, soweit Kindeswohlaspekte betroffen sind. Wechselt deshalb ein Elternteil, der das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind hat, seinen Wohnort und den des Kindes innerhalb der Staaten der EG gegen den Willen des im Übrigen mitsorgeberechtigten Elternteils, ist das nicht widerrechtlich im Sinne von Art. 3 HKiEntÜ, weil der andere Elternteil seine Mitsorge auch von seinem Heimatland aus in ausreichendem Maße ausüben kann. Einen derartigen Fall betrifft das HKiEntÜ seiner Zielsetzung nach nicht, denn Gegenstand des Übereinkommens sind die Fälle, in denen ein Kind aus seiner familiären und sozialen Umgebung, in denen sich sein Leben abspielte, herausgerissen wird und/oder der Entführer durch den Ortswechsel eine andere Gerichtszuständigkeit in seinem Sinne erzwingen will, welche er als günstiger für sein Begehren ansieht (vgl. erl. Bericht zum HKiEntÜ von Pérez-Vera, BT-Drucks. 11/5314 S. 40 Nrn. 11–15). Beides ist in einem derartigen Fall nicht gegeben. Aus seiner familiären und sozialen Umgebung wird das Kind nicht herausgerissen, weil diese sich in erster Linie durch den Elternteil, die Geschwister und den Stiefelternteil definiert, mit denen das Kind bisher aufgewachsen ist. Durch Art. 9 EuEheVO ist sichergestellt, dass die Zuständigkeit für die Entscheidung, die die elterliche Verantwortung betrifft, bei einem Umzug eines Kindes von einem Mitgliedstaat in einen anderen für eine Änderung einer vor dem Umzug des Kindes in diesen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung über das Umgangsrecht während einer Dauer von drei Monaten nach dem Umzug bei den Gerichten des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes erhalten bleibt, wenn sich der umgangsberechtigte Elternteil dort weiterhin aufhält. Hierdurch kann der Elternteil, der nicht das Aufenthaltsbestimmungsrecht hat, eine der neuen Sachlage angepasste Umgangsregelung bei dem früher zuständigen Gericht zügig erreichen.
[9]2. Der erstmals in der Beschwerde gestellte Antrag der AGg., den Aufenthaltsort für die Kinder in England zu bestimmen, ist unzulässig und daher zu verwerfen. Dem Senat als BeschwG fällt allein die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Beschlusses des AG vom 26.7.2007 zu.
[10]3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 50 Satz 1 IntFamRVG i.V.m. §§ 131 III KostO und 13a I FGG.