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Verfahrensgang

OLG Naumburg, Beschl. vom 28.11.2006 – 8 WF 153/06, IPRspr 2006-84

Rechtsgebiete

Kindschaftsrecht → Kindesentführung

Leitsatz

Steht dem betroffenen Elternteil (hier: dem Vater) mit Wohnsitz in den Niederlanden ein Mitspracherecht über den Aufenthaltsort der Kinder zu, ist das Verbringen der Kinder nach Deutschland widerrechtlich.

Wird der Rückgabeantrag bereits innerhalb der Jahresfrist gestellt, findet gemäß Art. 12 HKiEntÜ keine Prüfung dahingehend statt, ob sich die Kinder in ihrer neuen Umgebung eingelebt haben.

Die EuEheVO ergänzt das HKiEntÜ insofern, als eine Rückgabe des Kindes dann nicht gemäß Art. 13 HKiEntÜ verweigert werden darf, wenn Maßnahmen zum Schutz des Kindes nach dessen Rückkehr getroffen wurden. Dafür ist ausreichend, dass die Kinder vor der Übertragung der alleinigen Fürsorge auf den Vater durch das niederländische Gericht der Aufsicht einer Familienvormundschaftsbehörde unterstellt wurden.

Rechtsnormen

EuEheVO 2201/2003 Art. 2; EuEheVO 2201/2003 Art. 11
HKÜ Art. 3; HKÜ Art. 4; HKÜ Art. 5; HKÜ Art. 12; HKÜ Art. 13
IntFamRVG § 9; IntFamRVG § 12; IntFamRVG § 40; IntFamRVG § 44

Sachverhalt

Das (am 13.10.1998 geborene) Kind T. und das (am 19.6.2000 geborene) Kind K. sind aus der nichtehelichen Lebensgemeinschaft der Beteiligten zu 1) und 2) hervorgegangen. Am 22.8.2000 haben die Beteiligten zu 1) und 2) die Ehe geschlossen. Am 16.1.2004 ist die Ehe in den Niederlanden geschieden und die vom Beteiligten zu 1) begehrte Umgangsregelung vom niederländischen Gericht einer späteren Entscheidung vorbehalten worden. Der Gerichtsbeschluss ist am 21.4.2004 in die Zivilstandsregister eingetragen und die Beteiligten sind gemeinsam mit der elterlichen Sorge „beauftragt“ worden. Anschließend wurde das Umgangsrecht des Beteiligten zu 1) mit den – in der alleinigen Obhut der Beteiligten zu 2) verbliebenen – Kindern geregelt. Im Dezember 2005 ist die Beteiligte zu 2) ohne Rücksprache und Zustimmung des Beteiligten zu 1) mit den Kindern nach Deutschland verzogen.

Am 12.9.2006 hat der in den Niederlanden wohnende Beteiligte zu 1) beim AG – FamG – Naumburg den Antrag eingereicht, auf der Grundlage des HKiEntÜ die Rückgabe der Kinder anzuordnen. Nach persönlicher Anhörung der Kinder hat das FamG die Beteiligte zu 2) verpflichtet, die Kinder innerhalb einer Woche nach Rechtskraft seines Beschlusses zurückzuführen. Hiergegen haben der Verfahrenspfleger und die Beteiligte zu 2) sofortige Beschwerde eingelegt.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. 1. Die zulässigen sofortigen Beschwerden des Verfahrenspflegers der Kinder – der als gesetzlicher Interessenvertreter der Kinder handelt (vgl. Keidel-Kuntze-Winkler, FGG, 15. Aufl., § 50 Rz. 9, 15 ff.) – und der Beteiligten zu 2) (§ 40 II 2, 3 IntFamRVG) sind im Ergebnis nicht begründet. Denn nach Art. 11 EuEheVO i.V.m. Art. 12 HKiEntÜ hatte das FamG die sofortige Rückgabe der Kinder anzuordnen:

[2]a) Als die Kinder im Dezember 2005 in die Bundesrepublik Deutschland verbracht wurden, sind die in der Bundesrepublik Deutschland am 1.3.2005 in Kraft getretene EuEheVO und das am 1.12.1990 in Kraft getretene HKiEntÜ auch in den Niederlanden in Kraft gewesen. Die EuEheVO und das HKiEntÜ gelten auch für die betroffenen Kinder. Denn das (am 13.10.1998 geborene) Kind T. und das (am 19.6.2000 geborene) Kind K. haben unmittelbar vor der Verletzung des Sorgerechts des Beteiligten zu 1) oder seines Rechts zum persönlichen Umgang ihren gewöhnlichen Aufenthalt in den Niederlanden gehabt, und sie haben auch zurzeit noch nicht das sechzehnte Lebensjahr vollendet (Art. 4 Satz 2 HKiEntÜ).

[3]b) Der mitsorgeberechtigte Beteiligte zu 1) hat beim zuständigen AG – FamG – Naumburg (§ 12 I IntFamRVG) eine Entscheidung auf der Grundlage des HKiEntÜ beantragt, um eine Rückgabe der Kinder zu erwirken (Art. 11 I EuEheVO).

[4]c) Das Verbringen der Kinder in die Bundesrepublik Deutschland gilt als widerrechtlich, da dadurch das Mitsorgerecht verletzt wurde, das dem in den Niederlanden wohnenden Beteiligten zu 1) nach dem dortigen Recht zusteht, und dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen nicht stattgefunden hätte (Art. 2 Nr. 11 Satz 1 EuEheVO i.V.m. Art. 3 HKiEntÜ):

[5]aa) Dem betroffenen Elternteil braucht nur das Recht zuzustehen, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen (Art. 5 lit. a HKiEntÜ). Schon bei einer Verletzung eines solchen ‚Mitspracherechts’ ist ein widerrechtliches Verbringen des Kindes (Art. 3 I lit. a HKiEntÜ) anzunehmen (BVerfG, FamRZ 1997, 1269 f.) (IPRspr. 1997 Nr. 101b). Der Beteiligte zu 1) ist mit dem Gerichtsbeschluss vom 21.4.2004 gemeinsam mit der Beteiligten zu 2) mit der elterlichen Sorge ‚beauftragt’ worden (Gerechtshof NL-Herzogenbusch, Entscheidung vom 19.4.2006).

[6]bb) Da die Beteiligte zu 2) als Mitträgerin der elterlichen Verantwortung (Art. 2 Nr. 7 EuEheVO) kraft Gesetzes nicht ohne die Zustimmung des Beteiligten zu 1) als des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthalt der Kinder bestimmen kann, ist auch von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechtes der Beteiligten zu 1) und 2) auszugehen (Art. 2 Nr. 11 Satz 2 EuEheVO).

[7]d) Der Rückgabeantrag (eingereicht 12.9.2006) ist innerhalb einer Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen der Kinder in die Bundesrepublik Deutschland (Dezember 2005) gestellt worden. Infolgedessen war die Rückgabe der Kinder unabhängig davon anzuordnen, ob sich die Kinder in die neue Umgebung eingelebt haben (Art. 12 HKiEntÜ).

[8]e) Nach dem HKiEntÜ kann ein Gericht zwar von der Rückgabe eines Kindes absehen, wenn die Person, die sich der Rückgabe widersetzt – hier also die Beteiligte zu 2) –, nachweist, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt (Art. 13 I lit. b HKiEntÜ), oder wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und es ein Alter oder eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen (Art. 13 II HKiEntÜ). Das älteste Kind ist aber gerade einmal acht Jahre alt, so dass dem FamG ein weiter Ermessensspielraum zustand (vgl. Dauner-Lieb/Heidel/Ring/Benicke, AnwaltKommenbar BGB, 2. Aufl., Art. 13 HKiEntÜ Rz. 20 ff.). Und bei der gerichtlichen Umgangsregelung ist von den niederländischen Gerichten bereits festgestellt worden, dass die Kinder gern zu ihrem Vater gehen und den Kontakt mit ihm genießen. Sie reagieren begeistert auf ihn und fühlen sich vertraut bei ihm, und auch die Sorgen der Beteiligten zu 2), dass der Vater zu bestimmend sei und keinen Blick für die Sicherheit der Kinder habe, haben im Verlauf der Ermittlungen der niederländischen Gerichte keine Bestätigung gefunden ... Bei der anschließenden Abweisung des Antrags der Beteiligten zu 2) auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge konnten – nach Einholung von zwei Sachverständigengutachten – ebenfalls keine Gefahren für das Wohl der Kinder nachgewiesen werden ... Da der Beteiligten zu 2) kein dahingehender Nachweis gelang, ist dem Beteiligten zu 1) sogar – mit einer von der Beteiligten zu 2) angefochtenen Entscheidung – das alleinige Fürsorgerecht übertragen worden ... Ein von der Beteiligten zu 2) angestrengtes Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Missbrauchs der Kinder wurde mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt ..., und ein Prozesskostenhilfegesuch für ein beabsichtigtes Klageerzwingungsverfahren ist mangels Erfolgsaussicht abgewiesen worden (OLG Naumburg, Beschluss vom 14.08.2006 – 1 Ws [Zs] 215/06). Im Übrigen wird das HKiEntÜ durch die EuEheVO dahingehend ergänzt, dass die Rückgabe eines Kindes nach Art. 13 I lit. b HKiEntÜ dann nicht verweigert werden darf, wenn nachgewiesen ist, dass angemessene Vorkehrungen zum Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr getroffen wurden (Art. 11 IV EuEheVO). In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Kinder zeitlich vor der – angefochtenen – Übertragung der alleinigen Fürsorge auf den Beteiligten zu 1) von den niederländischen Gerichten unter Aufsicht einer Familienvormundschaftsbehörde gestellt wurden ...

[9]Auch in Zweifelsfällen ist eine Rückgabe von Kindern anzuordnen. Eine darin liegende Beeinträchtigung der Interessen von Kindern ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (Dauner-Lieb/Heidel/Ring/Benicke aaO Rz. 3 m.w.N.). Die EuEheVO und das HKiEntÜ wollen nämlich die Voraussetzungen dafür schaffen, dass international zuständige Gerichte sich mit dem Sorge- und Umgangsrecht befassen und ihre Entscheidungen in anderen Vertragsstaaten beachtet werden (vgl. BVerfG, FamRZ 1997, 1269 f. (IPRspr. 1997 Nr. 101b)).

[10]f) Schließlich sind die Kinder und ihr Verfahrenspfleger vom FamG angehört worden (Art. 11 II EuEheVO).

[11]2. Die Nebenentscheidungen des FamG sind ebenfalls nicht zu beanstanden. So hat das FamG zutreffend klargestellt, dass die Rückgabeverpflichtung – im Rahmen der Vollstreckung (§ 44 IntFamRVG) – nicht nur die Beteiligte zu 2) trifft, sondern auch jeden Dritten, der die tatsächliche Obhut über die zurückzugebenden Kinder im Auftrag und nach Weisung der Beteiligten zu 2) ausübt. Denn anderenfalls könnte die Rückgabe schon dadurch faktisch unterlaufen werden, dass die Kinder innerhalb des Familien- und Freundeskreises der Kindesmutter hin- und hergeschoben werden (vgl. Palandt-Diederichsen, BGB, 65. Aufl., § 1632 Rz. 9 unter Bezugnahme auf OLG Zweibrücken, FamRZ 2004, 1592 f.). Das FamG war auch – unabhängig von einer Zuwiderhandlung gegen die Rückgabeverpflichtung – befugt, der Beteiligten zu 2) ein Ordnungsgeld von bis zu 25 000 Euro sowie Ordnungshaft anzudrohen (§ 44 II IntFamRVG). Schließlich durfte es einen Vollstreckungsbeamten zur Gewaltanwendung auch gegen die Kinder ermächtigen (§ 44 II IntFamRVG) und dem Jugendamt eine Unterstützung der Vollstreckung der gerichtlichen Entscheidung aufgeben (§ 9 I Nr. 4 IntFamRVG).

Fundstellen

LS und Gründe

FamRZ, 2007, 1586
ZKJ, 2007, 250

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2006-84

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