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Verfahrensgang

KG, Beschl. vom 11.09.2006 – 28 AR 34/06, IPRspr 2006-131

Rechtsgebiete

Zuständigkeit → Besonderer Vertragsgerichtsstand

Leitsatz

Bei der Bestimmung des zuständigen Gerichts gemäß § 36 Nr. 3 ZPO muss Art. 9 I lit. b EuGVO dahingehend beachtet werden, dass ein Gericht, bei dem keiner der beklagten Streitgenossen seinen allgemeinen Gerichtsstand hat, ausnahmsweise zuständig ist, wenn der Antragsteller andernfalls die Streitgenossen nicht gemeinschaftlich verklagen kann und überwiegende Interessen der Antragsgegner nicht entgegenstehen.

Rechtsnormen

EGV-Amsterdam Art. 249
EUGVVO 44/2001 Art. 2; EUGVVO 44/2001 Art. 6; EUGVVO 44/2001 Art. 9; EUGVVO 44/2001 Art. 76
ZPO § 12; ZPO § 13; ZPO § 17; ZPO § 29a; ZPO § 36; ZPO § 59; ZPO § 60

Sachverhalt

Der in Berlin wohnhafte ASt. schloss bei der in London ansässigen AGg. zu 1) mehrere Lebensversicherungsverträge ab. Die Verträge wurden jeweils von der AGg. zu 2) vermittelt, die als offizielle Vertriebspartnerin britischer Versicherungsunternehmen für den gesamten deutschen Markt auftritt und ihren Sitz in R./Westfalen hat. Mit der beim LG Berlin anhängigen Klage nimmt der ASt. die AGg. gesamtschuldnerisch wegen Nichterfüllung des Versicherungsvertrags bzw. Falschberatung auf Schadensersatz in Anspruch. Nach einem Hinweis des angerufenen Gerichts auf seine örtliche Unzuständigkeit bezüglich der AGg. zu 2) beantragt der ASt., das LG Berlin als zuständiges Gericht zu bestimmen.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]II. 1. Das KG ist für den Antrag auf Bestimmung des zuständigen Gerichts gemäß § 36 I Nr. 3 ZPO zuständig, da die für eine Zuständigkeitsbestimmung in Betracht kommenden Gerichtsstände in den Bezirken verschiedener OLGe liegen und das zum hiesigen Bezirk gehörende LG zuerst mit der Sache befasst war (§ 36 II ZPO).

[2]2. Die für eine Gerichtsstandsbestimmung bei Sachverhalten mit Auslandsbezug notwendige internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte (vgl. Vossler, NJW 2006, 117 [119]) ist bezüglich beider AGg. gegeben. Für die AGg. zu 2), die ihren Sitz in Deutschland hat, ergibt sich diese bereits aus Art. 2 I EuGVO. Für die in Großbritannien ansässige AGg. zu 1) folgt die internationale Zuständigkeit aus Art. 9 I lit. b EuGVO. Nach der genannten Vorschrift kann ein Versicherer, der seinen Sitz in einem Mitgliedstaat hat, in einem anderen Mitgliedstaat vor den Gerichten am Wohnort des Versicherungsnehmers verklagt werden.

[3]3. Die sachlichen Voraussetzungen für eine Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 I Nr. 3 ZPO liegen ebenfalls vor. Die Bekl. sind Streitgenossen im Sinne von §§ 59, 60 ZPO, da sie aus dem gleichen tatsächlichen und rechtlichen Grund als Gesamtschuldner in Anspruch genommen werden. Entsprechend ihren unterschiedlichen Wohn- bzw. Geschäftssitzen haben die AGg. ihren allgemeinen Gerichtsstand bei verschiedenen Gerichten (§§ 12, 13, 17 ZPO).

[4]Ein gemeinsamer besonderer Gerichtsstand ist ebenfalls nicht ersichtlich. Insbesondere ergibt sich dieser nicht aus Art. 6 Nr. 1 EuGVO. Zwar kann auch die Möglichkeit einer Klage an dem dort geregelten Gerichtsstand der Streitgenossenschaft einer Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 I Nr. 3 ZPO entgegenstehen (vgl. BayObLG, InVo 1999, 396 (IPRspr. 1999 Nr. 123)). Allerdings ist die Vorschrift im vorliegenden Fall nicht anwendbar, weil die Zuständigkeit für Versicherungs-, Verbraucher- und Arbeitssachen im dritten bis fünften Abschnitt der EuGVO abschließend geregelt ist (Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 8. Aufl., Art. 6 EuGVO Rz. 3). Darüber hinaus scheidet auch Art. 9 I lit. c EuGVO als gemeinschaftlicher besonderer Gerichtsstand aus, da die AGg. zu 2) nicht als Mitversicherer, sondern als Versicherungsvermittler in Anspruch genommen wird. Ob die AGg. gemeinsam vor einem ausländischen Gericht verklagt werden könnten, kann offen bleiben, da dies einer Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 I Nr. 3 ZPO nicht entgegenstünde (BayObLG, NJW-RR 1990, 893 [894]) (IPRspr. 1989 Nr. 57).

[5]4. Aus prozessökonomischen Gründen, welche für die Auswahl des zuständigen Gerichts maßgebend sind, erscheint vorliegend die Bestimmung des LG Berlin zweckmäßig und geboten. Dem steht nicht entgegen, dass keine der AGg. dort ihren allgemeinen Gerichtsstand hat. Zwar ergibt sich aus dem Wortlaut von § 36 I Nr. 3 ZPO, der von einer Klageerhebung an dem allgemeinen Gerichtsstand ausgeht, dass grundsätzlich ein Gericht zu bestimmen ist, bei dem mindestens ein Antragsgegner seinen Wohn- oder Geschäftssitz (§§ 12, 13, 17 ZPO) hat (BGH, NJW 1987, 439; OLG Hamm, NJW 2000, 1347; Musielak-Heinrich, ZPO, 4. Aufl., § 36 Rz. 22; Stein-Jonas-Roth, ZPO, 22. Aufl., § 36 Rz. 31).

[6]Allerdings sind in der Rechtsprechung seit langem Ausnahmen von diesem Grundsatz anerkannt. Besteht bspw. für einen der Streitgenossen eine ausschließliche Zuständigkeit nach § 29a ZPO oder einer anderen zwingenden Zuständigkeitsnorm, kann auch das betreffende Gericht als zuständig bestimmt werden, selbst sofern keiner der zu verklagenden Streitgenossen dort seinen allgemeinen Gerichtsstand hat (BGH, NJW 1987, 439; BayObLG, NJW-RR 2000, 1592; KG, KG-Report 218). Entsprechendes gilt im Falle einer Gerichtsstandsvereinbarung mit ausschließlichem Charakter, sofern der an der Prorogation nicht beteiligte Streitgenosse hierdurch nicht unzumutbar belastet wird (BGH, NJW 1988, 646 [647] (IPRspr. 1987 Nr. 124); Zöller-Vollkommer, ZPO, 25. Aufl., § 36 Rz. 15). Aus einer Gesamtschau dieser Rechtsprechung lässt sich der Grundsatz herleiten, dass eine vom allgemeinen Gerichtsstand sämtlicher Streitgenossen abweichende Bestimmung ausnahmsweise dann möglich ist, wenn es dem Antragsteller ansonsten verwehrt wäre, die Streitgenossen gemeinschaftlich zu verklagen und nicht überwiegende Interessen der Antragsgegner entgegenstehen (vgl. auch Vossler aaO 120).

[7]5. a) Ein derartiger Ausnahmefall ist vorliegend aufgrund des Vorrangs der gemeinschaftsrechtlichen Zuständigkeitsbestimmung in Art. 9 I lit. b EuGVO, die für die AGg. zu 1) einschlägig ist, gegeben. Nach allgemeiner Auffassung eröffnet die Vorschrift nicht nur die internationale Zuständigkeit der Gerichte des Wohnsitzstaats des Versicherungsnehmers, sondern regelt nach seinem eindeutigen Wortlaut darüber hinaus auch die örtliche Zuständigkeit. Aus Gründen des Verbraucherschutzes räumt Art. 9 I lit. b EuGVO dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit ein, an dem Ort gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, an dem er zum Zeitpunkt der Klageerhebung seinen Wohnsitz hat (vgl. Kropholler aaO Art. 9 EuGVO Rz. 1; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 4. Aufl., Rz. 283).

[8]Diese gemeinschaftsrechtliche Regelung der örtlichen Zuständigkeit führt im Ergebnis zu einer Einschränkung des Auswahlermessens im Bestimmungsverfahren nach § 36 I Nr. 3 ZPO. Die EuGVO gilt nach Art. 249 II 2 EG unmittelbar in den Mitgliedstaaten. Dies stellt Art. 76 II EuGVO ausdrücklich klar. Als gemeinschaftsrechtlicher Sekundärrechtsakt genießt die Verordnung Anwendungsvorrang vor dem gesamten nationalen Recht einschließlich des Verfassungsrechts. Damit bleibt der Rückgriff auf die Regelungen der ZPO sowohl im Hinblick auf die internationale Zuständigkeit, als auch bezüglich der örtlichen Zuständigkeit versperrt, wenn diese – wie bei Art. 9 I lit. b EuGVO – unmittelbar in der Verordnung festgelegt wird (Rauscher-Staudinger, Europäisches Zivilprozessrecht, 2. Aufl., Einl. Brüssel I VO, Rz. 27 ff.; Wagner, WM 2003, 116 [117, 120]). Aus dem Anwendungsvorrang der EuGVO ist zu schließen, dass die dort geregelten Zuständigkeiten – anders als etwa die ausschließlichen Gerichtsstände der ZPO (vgl. Stein-Jonas-Roth Rz. 30 m.w.N.) – auch im Bestimmungsverfahren nach § 36 I Nr. 3 ZPO zwingend beachtet werden müssen (vgl. BayObLG, RIW 1997, 596 [597] (IPRspr. 1997 Nr. 143); Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, 2 Aufl., Vorb Art. 2 EuGVVO Rz. 2; Zöller-Geimer aaO Art. 2 EuGVVO Rz. 30).

[9]b) Im vorliegenden Fall hat dies zur Folge, dass als zu bestimmendes Gericht von vornherein nur das LG Berlin in Betracht kommt, bei dem der ASt. zum Zeitpunkt der Klageerhebung seinen Wohnsitz hatte. Eine Bestimmung dieses Gerichts ist auch im Ergebnis geboten, da überwiegende Interessen der AGg. zu 2) nicht entgegenstehen. Im Hinblick auf den Umstand, dass die AGg. zu 2) als offizielle Vertriebspartnerin britischer Versicherungsunternehmen für den gesamten deutschen Markt auftritt, erscheint ihr Interesse, ausschließlich an ihrem allgemeinen Gerichtsstand verklagt zu werden, nur bedingt schutzwürdig. Andererseits ist bei der notwendigen Interessenabwägung zugunsten des ASt. der Schutzzweck der Regelung in Art. 9 I lit. b EuGVO zu berücksichtigen, auf den bereits hingewiesen wurde. Im Ergebnis ist daher dem legitimen Interesse des ASt., beide AGg. gemeinschaftlich zu verklagen, dem nur durch eine Bestimmung des LG Berlin Rechnung getragen werden kann, Vorrang vor den gegenläufigen Interessen der AGg. zu 2) einzuräumen.

Fundstellen

LS und Gründe

NJ, 2007, 79, mit Anm. Gebauer
NJOZ, 2007, 1975
VersR, 2007, 1007

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2006-131

Lizenz

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