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Verfahrensgang

ArbG Hamburg, Urt. vom 04.02.2021 – 15 Ca 95/18
LAG Hamburg, Urt. vom 13.07.2022 – 5 Sa 11/21, IPRspr 2022-250
BAG, Sonstige: Rücknahme vom 02.05.2023 – 5 AZR 263/22

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht → Individualarbeitsrecht
Allgemeine Lehren → Rechtswahl

Leitsatz

Die Entsendung eines Arbeitnehmers für zwei Jahre an eine ausländische Betriebsstätte in der EU ist vorübergehend im Sinne von Art. 8 Abs. 2 S. 2 Rom I-VO, sofern der Arbeitnehmer nach Ende des Entsendungszeitraums seine Tätigkeit bei seiner Arbeitgeberin in Deutschland aufnehmen soll.

Der Entgeltarifvertrag findet für die tarifgebundenen Parteien auch bei einer vorübergehenden Auslandsentsendung im Sinne des Art. 8 Abs. 2 S. 2 Rom I-VO für die Dauer des Entsendungszeitraums zwingend Anwendung. Dies gilt unabhängig davon, dass der räumliche Geltungsbereich des Tarifvertrags sich auf einzelne Regionen Deutschlands beschränkt. [LS der Redaktion]

Rechtsnormen

Rom I-VO 593/2008 Art. 3; Rom I-VO 593/2008 Art. 8
TVG § 4

Sachverhalt

[Siehe auch die teilweise Parallelentscheidung des LAG Hamburg gleichen Datums – 5 Sa 6/21 (IPRspr 2022-249).]


Der am XX. X. 19XX geborene Kläger ist seit 1971 bei der Beklagten bzw. ihren Rechtsvorgängern beschäftigt. Die Beklagte ist ein Unternehmen im Konzernverbund E. mit Sitz in Hamburg. Sie ist Mitglied des Arbeitgeberverbandes Nordmetall. Der Kläger ist Mitglied der IG Metall. Der Kläger erhält eine Vergütung nach dem von diesen Tarifvertragsparteien geschlossenen Entgelttarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie in Hamburg und Umgebung (TV Entgelt). Zunächst war der Kläger im Betrieb der Beklagten in Deutschland tätig. Von 2015 bis zunächst 2016 wurde der Kläger zur A.O.S. in Toulouse entsandt. Der Entsendung lag der zusätzlich zum Arbeitsvertrag geschlossene Entsendungsvertrag zugrunde. Die Entsendung des Klägers wurde über das Jahr 2016 hinaus fortgeführt und bis 2018 einvernehmlich verlängert. Im Jahre 2017 behielt die Beklagte von der Vergütung des Klägers xxx € netto hypothetische Steuern ein und erstattete ihm hiervon xxx € netto für von ihm selbst an die französischen Finanzbehörden abgeführte Steuern. Im Jahre 2018 behielt die Beklagte von der Vergütung des Klägers in den Monaten insgesamt xxx € und zahlte hieraus für den Kläger Steuern an die französischen Finanzbehörden in Höhe von xxx €.

Der Kläger begehrt die Rückzahlung der von der Beklagten einbehaltenen hypothetischen Steuerbeträge. Er hat erstinstanzlich zuletzt beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger xxx € netto und xxx € netto jeweils nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu zahlen. Das Arbeitsgericht Hamburg hat durch Schlussurteil vom 04. Februar 2021 – 15 Ca 95/18 – (Bl. 470 d.A.) der Klage im Wesentlichen stattgegeben und die Widerklage abgewiesen. Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt.

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]A.

[2]Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet.

[3]I. ... II. Die Berufung ist unbegründet, weil die Klage, soweit das Arbeitsgericht ihr stattgegeben hat, zulässig und begründet ist ...

[4]1. ... a) ... b) ... aa) ... bb) ... (1) ... (2) ... (a) ... (b) ... (aa) ... (bb) ... (3) ... Die Regelung in Nr. 7 Abs. 1 und 2 Entsendungsvertrag ist tarifwidrig, weil sie von normativ geltenden Regelungen des TV Entgelt zur Höhe des Bruttogehalts des Klägers zu seinen Ungunsten abweicht, ohne dass der TV Entgelt dies gestattete (§ 4 Abs. 3 TVG). Auch an einem wirksamen Verzicht fehlt es (§ 4 Abs. 4 TVG).

[5](a) Während der Dauer der Entsendung des Klägers haben die Rechtsnormen des TV Entgelt zwischen den Parteien unmittelbar und zwingend gegolten (§ 4 Abs. 1 TVG).

[6](aa) Während dieser Zeit ist deutsches Recht auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anwendbar gewesen und damit auch das Tarifvertragsgesetz. Dies ergibt sich aus den Regelungen in Art. 3 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 (ROM I-​VO).

[7]Gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Rom I-​VO unterliegt ein Vertrag dem von den Parteien gewählten Recht. Diese Rechtswahl kann ausdrücklich erfolgen, sich aber auch eindeutig aus den Bestimmungen des Vertrages oder den Umständen des Falles ergeben (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 ROM I-​VO). Eine danach getroffene Rechtswahl ist gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 ROM I-​VO auch für Individualarbeitsverträge maßgebend, allerdings darf die Rechtswahl nicht dazu führen, dass dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm durch Bestimmungen gewährt wird, von denen nach dem Recht, das nach den Absätzen 2, 3 und 4 des vorliegenden Artikels mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre, nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf (Art. 8 Abs. 1 Satz 2 ROM I-​VO). Gemäß Art. 8 Abs. 2 ROM I-​VO unterliegt der Arbeitsvertrag – sofern das auf den Arbeitsvertrag anzuwendende Recht nicht durch Rechtswahl bestimmt ist – dem Recht des Staates, in dem oder von dem aus der Arbeitnehmer in Erfüllung des Vertrages gewöhnlich seine Arbeit verrichtet. Gemäß Art. 8 Abs. 2 Satz 2 ROM I-​VO wechselt der Staat, in dem die Arbeit gewöhnlich verrichtet wird, nicht, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit vorübergehend in einem anderen Staat verrichtet.

[8]Ausgehend von diesen Regelungen findet im Streitfall für die Dauer der Entsendung deutsches Recht Anwendung. Die Parteien haben in Nr. 10 Entsendungsvertrag ausdrücklich die Geltung deutschen Rechts vereinbart. Auch ohne diese Rechtswahl würde gemäß Art. 8 Abs. 2 ROM I-​VO deutsches Recht für die Dauer der Entsendung gelten. Der gewöhnliche Arbeitsort des Klägers hat bis zur Entsendung und auch nach dem Ende des Entsendungszeitraums – unstreitig – im Betriebe der Beklagten in Hamburg gelegen, mithin in Deutschland. Die Entsendung nach Frankreich hat nur vorübergehend im Sinne des Art. 8 Abs. 2 Satz 2 ROM I-​VO stattgefunden und hat nicht zu einem Wechsel des Arbeitsortes im Sinne dieser Vorschrift geführt.

[9]Wie sich aus dem 36. Erwägungsgrund zur ROM I-​VO ergibt, soll bei Individualarbeitsverträgen die Erbringung der Arbeitsleistung als vorübergehend gelten, wenn von dem Arbeitnehmer erwartet wird, dass er nach seinem Arbeitseinsatz im Ausland seine Arbeit im Herkunftsstaat wieder aufnimmt. Die Verbindung mit dem ursprünglichen Arbeitsort bleibt nach Unionsrecht bei zeitlich beschränktem Auslandseinsatz maßgebend, wenn die Rückkehr und spätere Weiterbeschäftigung am ursprünglichen Ort beabsichtigt ist. In diesem Fall rechtfertigt selbst eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation im Aufnahmeland einen Wechsel der Rechtsordnung nicht (ErfK/Schlachter, 21. Aufl, Art. 9 ROM I-​VO, Rn. 13). Eine zeitliche Bestimmung des Begriffs „vorübergehend“ ist in Art. 8 Abs. 2 Satz 2 ROM I-​VO nicht getroffen. Es kann daher offenbleiben, ob die Zeitdauer einer Entsendung keine Relevanz hat, solange die Entsendung nur befristet erfolgt und damit der Rückkehrzeitpunkt feststeht, also keine dauernde Entsendung vorgesehen ist (so wohl Däubler/Deinert, TVG, 4. Aufl., § 4 Rn. 223). Selbst wenn man einer (sehr langen) zeitlichen Dauer der Entsendung eine Bedeutung einräumen wollte, wäre jedenfalls bei einem überschaubaren Entsendungszeitraum von zwei Jahren – wie hier vorgesehen – keine zeitlich besonders lange Dauer gegeben, die einer Einstufung als „vorübergehend“ im Sinne des Art. 8 Abs. 2 Satz 2 ROM I-​VO entgegenstände. Denn Entsendungen ins Ausland sind schon aufgrund des damit verbundenen erheblichen Aufwandes für den Arbeitnehmer und erforderlicher Einarbeitungszeiten typischerweise keine Maßnahmen für wenige Monate. Insofern handelt es sich bei einem Zwei-​Jahreszeitraum um einen für Auslandsentsendungen eher typischen und erwartbaren Zeitrahmen, sodass dieser „Normalfall“ nach den Grundsätzen des Art. 8 Abs. 2 Satz 2 ROM I-​VO iVm. dem 36. Erwägungsgrund zur ROM I-​VO zu beurteilen ist.

[10]Davon ausgehend ist im Streitfall der gewöhnliche Arbeitsort im Sinne von Art. 8 Abs. 2 ROM I-​VO auch während der Dauer der Entsendung des Klägers in Deutschland geblieben. Es ist bereits aus dem Entsendungsvertrag ersichtlich, dass die Entsendung nur zeitlich befristet hat erfolgen sollen. Entsprechend hat der Kläger – wie vorgesehen – im Anschluss seine Tätigkeit bei der Beklagten in Deutschland wieder aufgenommen. Die Tatsache, dass der Kläger während des Entsendungszeitraumes allein in Frankreich Weisungen erhalten hat und in die dortige Arbeitsorganisation eingegliedert gewesen ist, steht dem nicht entgegen.

[11](bb) Während der Dauer der Entsendung hat der TV Entgelt für die Parteien aufgrund ihrer Tarifgebundenheit normativ, also mit zwingender Wirkung gegolten.

[12]Der Kläger ist unstreitig bereits bei Beginn der Entsendung Mitglied der IG Metall gewesen, wie sich aus der vorgelegten Bestätigung der Gewerkschaft ergibt. Auch die Beklagte ist Mitglied im Arbeitgeberverband. Entgegen der Ansicht der Beklagten steht der normativen Bindung an den TV Entgelt im Entsendungszeitraum nicht der dort festgelegte räumliche Geltungsbereich entgegen. Im TV Entgelt ist geregelt, dass sein räumlicher Geltungsbereich die „Tarifgebiete Hamburg und Umgebung, Schleswig-​Holstein, Mecklenburg-​Vorpommern, Unterweser und Nordwestliches Niedersachsen“ umfasst. Anknüpfungspunkt für den räumlichen Geltungsbereich ist in Ermangelung einer besonderen Regelung der Schwerpunkt des Arbeitsverhältnisses (Däubler/Deinert, TVG, 4. Aufl., § 4 Rn. 207, m.w.N.). Der Schwerpunkt liegt regelmäßig dort, wo ein Arbeitsverhältnis zu erfüllen ist, im Zweifel am Betrieb oder Betriebsteil, in den ein Arbeitnehmer eingegliedert ist (Däubler/Deinert, a.a.O.; BAG, Urteil vom 03. Dezember 1985 – 4 AZR 325/84 –, Rn. 17, juris). Der Schwerpunkt des Arbeitsverhältnisses hat vor und nach dem Entsendungszeitraum unzweifelhaft am Betriebssitz der Beklagten in Hamburg gelegen, also im räumlichen Geltungsbereich des TV Entgelt.

[13]Die befristete Entsendung des Klägers nach Frankreich ändert an der normativen Geltung des TV Entgelt nichts, insbesondere führt dieses Umstand nicht – wie die Beklagte meint – dazu, dass der TV Entgelt während dieser Zeit nur aufgrund arbeitsvertraglicher Inbezugnahme Anwendung fände. In Fällen vorübergehender Auslandsentsendungen, bei denen Arbeitsvertragsstatut und Tarifvertragsstatut deutschem Recht unterliegen, ist richtigerweise davon auszugehen, dass ein Tarifvertrag auch ohne entsprechende ausdrückliche Regelung einer Auslandserstreckung auf die Arbeitsverhältnisse im Entsendungszeitraum weiterhin normativ anwendbar ist. Dies gilt jedenfalls, soweit nicht die Besonderheiten des Arbeitnehmerentsendegesetzes gelten. Denn eine nur vorübergehende Entsendung an einen anderen Arbeitsort berührt den Schwerpunkt des Arbeitsverhältnisses nicht, vielmehr bleibt es insoweit bei der Anknüpfung an den (bisherigen) Betriebssitz (Däubler/Deinert, TVG, 4. Aufl., § 4 Rn. 223) ...



Fundstellen

LS und Gründe

BeckRS, 2022, 37155

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/2022-250

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